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letztes update: April 24, 2002 |
1. Sarah Kane - Sämtliche Stücke
(Zerbombt, Phaidras Liebe, Gesäubert, Gier, 4.48 Psychose), 252 S.
Rowohlt Paperback, 13 € (27,-DM)
1999 beging Sarah Kane Selbstmord. Spektakulärer konnte sie nicht von der Bühne gehen, auch nicht weniger traurig. Zynisch ist es ja, aber vorher hörte man in Deutschland von Ihr nur in Theaterkreisen etwas und vielleicht, daß Ihre Stück so "vulgär und schmutzig" seien. Nun gibt uns der Rowohlt Verlag das Vergnügen einer gelungen Übersetzung all Ihren "Schmutzes" und mittlerweile suhle ich mich sehr gerne darin. Die Süddeutsche Zeitung schrieb, sie könne wie "niemand sonst mit so brutalen Pinselstrichen so feine Skizzen hinlegen". Es sind Skizzen von Tragödien, Gewalt, Liebe, Zärtlichkeit und Schönheit, immer versetzt mit der unstillbaren Sehnsucht nach Nähe. Diese Sehnsucht erfüllt sich nicht und wird unerträglich. Es ist geradezu ein Kommando an den Leser, Nähe zuzulassen, wenn er diesen Stoff liest. Zutiefst unwahrscheinlich ist sicherlich, daß die Stücke einen gänzlich kalt lassen. Sei es Neugier, Gier nach Ekel oder Abscheu, manchmal kann man auch sehr belustigt sein. Schon im ersten Stück "Zerbombt" wird man erst einmal als Zuschauer fragend zurückgelassen, als Protagonist Ian mit seiner Frau Cate ein nobles Hotelzimmer in Leeds betritt. Sein erster Satz lautet: "Ich war schon nobler scheissen als hier". War das eine Provokation? Oder ist das Stück so banal wie seine ersten Zeilen? Nein, bestimmt nicht. Stattdessen von Anfang an eine klare Rollenverteilung, Ian ist für den Ekel in diesem Stück zuständig und für Ihn wird kaum Sympathie aufkeimen. Fortan ist auch klar, daß es sich nicht um ein "ordinäres" bürgerliches Paar handelt, auch wenn man zuerst nur eine Ahnung davon hat. Der Ekel und die Unerbittlichkeit der Handlung stellen den Leser auf eine harte Probe, als der Hintergrund der Begebenheit aufklart, als plötzlich Fragmente des Bürgerkrieges mit einem Soldaten auf die Bühne eindringen, eine noch abstoßendere und verzweifeltere Soldatenfigur als Büchners Woyzeck. Kane führt eine besondere Form der politischen Dramaturgie, wenn Sie das Innenleben des Zuschauers attackiert. Sie begreift das Individuum als Ausgangspunkt jeden Handelns und nicht die Gruppe oder Partei. Eine starke innere Auseinandersetzung führt vermutlich zur gezielten Beeinflussung des Einzelnen, so wird es aus seinem Innersten heraus politisch, vielleicht ohne es zu wissen. Da ähnelt Sarah Kane ein wenig Bertolt Brecht, erst recht in Ihrem Hauptthema: Liebe. Sehnsucht nach Nähe und ein unstillbares Verlangen aus verletzen Seelen ist immer wieder als ein Hauptmotiv zu entdecken. Die Vielfalt und die unerwartete Verbindung in all Ihren hier vorliegenden Stücken machen das Buch zu einer äußerst lesenswerten Erfahrung. (©MB2002) |
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2. Prof. Dr. Eugen Drewermann, Jesus von Nazareth - Glauben in Freiheit, 819 Seiten - Walter Vlg., Düsseldorf, 46 € (89,-DM) Drewermann ist zunächst einmal selber schon ein bemerkenswerter Mensch. Der studierte Theologe, Psychotherapeut und ausgebildete Priester ist ein intellektuelles Schwergewicht und auf vielerlei Feldern beschlagen, insbesondere in der Bilderlehre und der Tiefenpsychologie. 1991 kam er in die Presse: Predigtverbot und Suspension aus der Kirche. Eines Verbrechens hatte er sich nicht schuldig gemacht, eher hatte er sich im christlichen Sinne verdient gemacht. Doch seine Glaubensauslegung stieß in der Verwaltung der katholischen Kirche und seinen Machtträgern auf Widerwillen. Es ist heute außerordentlich unüblich sich mit religiöser Literatur zu beschäftigen, Drewermann verdient aber genaueres Hinsehen. Er legt die Bibel vollkommen neu aus, verzichtet auf Wunderglauben und Verklärung und identifiziert die historische Person des Jesus von Nazareth, ohne seiner Bedeutung Schaden zu nehmen. Es ist vielleicht anmaßend zu sagen, daß hier der "Hirte der Christenheit" zum ersten Therapeuten auf Erden umgeschrieben wird, doch es läßt sich so scheinbar hervorragend die Bedeutung christlicher Philosophie auf die moderne, aufgeklärte Welt übertragen. Dabei lösen sich viele Rätsel, wird die Dogmatik der Erbsünde gelüftet, die Apokalypse historisch entzaubert und die tröstliche und gütige Botschaft erhalten. Es ist immer wieder überraschend, wie leicht es dem Autor gelingt, die Brücke von testamentarischer Auslegung in die heutige Welt zu schaffen und dabei wenig Widerwillen zu ernten. Christliche Philosophie steht fernöstlicher Weisheit in keiner Weise nach, im Gegenteil. Dieses Buch hilft zu verstehen, warum Christus solch eine historische Bedeutung und Gefolgschaft erreichen konnte und wie sich die die Hemnisüberwindung verstehen und erlernen läßt: Auf Gewalt mit Güte zu antworten, auf das Verbrechen mit Verstehen und auf Haß mit noch vermehrter Liebe. Eugen Drewermann geht in diesem Buch der Frage nach, wie die "Entschuldung" des Menschen in der Botschaft Jesu die Strukturen unseres Geld- und Wirtschaftssystems verändern und wie eine Pädagogik des Friedens aussehen könnte. Der Theologe und Psychotherapeut Drewermann schildert Person und Botschaft des Jesus von Nazareth auf aufwühlende und revolutionäre, aber auch sehr tröstliche Weise. Für jeden ehemaligen Kirchgänger eine Bereicherung. Spirituell, ohne in die Esoterik-Schublade greifen zu müssen. (©MB2002) |
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3. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Fischer Verlag, 448 S. 13,90 € (27,90 DM)
In "Der flexible Mensch" leistet Sennett für viele einen der bedeutsamsten Beiträge zum Verständnis und zur Selbstfindung des modernen Menschen. Eindrucksvoll beschrieb er die veränderte Arbeits- und Erlebniswelt am Ende des 20. Jahrhunderts und das Gefühl der neuen Unsicherheit, in der plötzliche Umstrukturierungen ehemalige Lebenspläne verändern und das Wort Lebensplan in Frage stellen. Er schloss in warmen Worten mit der These, daß die Abkehr des Systems von den Gefühlen und menschlichen Bedürfnissen seiner Teilnehmer letztlich zur Abkehr des Teilnehmer vom kapitalistischen System unserer Zeit führt. Das klingt noch heute ziemlich aufrührerisch und ein wenig marxistisch. Aber solche Einwände klatsch Sennett als Soziologe gerne an die Wand. In seinem Vorgängerwerk "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens" schafft Sennet die Grundlagen für "Der flexible Mensch". Er führt aus, daß die heutige Anschauung, menschliche Nähe sei ein moralischer Wert an sich, zu einem Mythos geführt hat. Dieser Mythos besagt, daß sämtlich Mißstände der Gesellschaft entweder auf Anonymität, Vereinsamung, Entfremdung, Kälte und Individualisierung zurückgeführt werden können. Daraus entsteht die Ideologie der Intimität, die Sehnsucht nach Familie und der "Nesttrieb", der uns vor der Kälte des öffentlichen Lebens schützen soll. Betrachtet man die Werbewelt, so ist diese Ideologie im Vormarsch, sie ist geradezu "Super-In". Statt öffentlichem Glamour oder Portraits von Siegern im Meetingmarathon darf die heimische Idylle einziehen (Diebels: Glück,Glück,Glück), mit dem entsprechenden Produkt zieht man sich aus der offenen Welt in die heile private Menschenfreundlichkeit zurück. Sennett entlarvt diese Ideologie anhand einer intensiven Diskussion der Lebenswelt der Industriegesellschaft. Das Werk ist eine Ergänzug zur Habermas "Strukturwandel der Öffentlichkeit" und öffnet den Blick darauf, wie der Aufstieg und Fall der öffentlichen Kultur unsere Menschenfreundlichkeit in Frage stellt und damit auch den privaten Raum. (©MB2002) |
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4. Christian Kracht - 1979, 183 Seiten - Kiepenheuer u. W., Köln, 17,90 €
Christian Kracht beschreibt die Innenwelt eines Menschen brilliant und unterhaltsam. Mit einfachen Sätzen und banalen Statements vermittelt er viel wichtige Gefühle und unbedeutende Gedanken. Seinen Durchbruch schaffte er mit "Faserland", der Beschreibung einer Reise von Sylt bis zum Bodensee und darüber hinaus einer Reise zu sich selbst. Schon dort war die "Barbourjacke" und die äußere Wirkung der ihn umgebenden Personen ein größerer Seitenfüller als Gespräche oder reflektierende Gedanken. Stattdessen begleitet die Figur eine unnachahmlich direkte und ungestörte Art seine Umwelt, insbesondere die Objekte, weniger die Subjekte, aufzunehmen, zu beschreiben und in eine kleine, hintergründige Geschichte einzubetten, sei es die Beschreibung der ICE-Cafés, welches mit Gedanken über die Werber, lebensgefühltankend in der Toskana und dabei Ihren Porsche bewegend, endet. Selten ein Buch, indem man so oft die Wiederholung : "Ich zündete mir eine Zigarette an" liest, variationsreicher schon eher die Unmenge an Drinks, die während dieser Reise verschlungen wird. "Faserland" bot mehr Innenleben der jüngeren Generation als es seine Nachahmer Florian Illies oder Benjamin von Stuckradt-Barre je könnten. Erstaunlich, daß das Buch immer wieder einen mit dem Gefühl zurücklässt, man habe keine Handlung erkennen können, dennoch fühlt man sich gut unterhalten.
Das
erste Buch: Faserland, 165 Seiten - Kiepenheuer u. W., Köln, € 15,50
(TB: € 6) "1979" vermittelt eine andere Art von Reise. Aber wieder ist Reise ein Instrument zur Begegnung mit sich Selbst. Und wieder schafft es der selbst vielreisende Kracht mit wenigen Worten Nachwehen von 1001 Nacht in Teheran zu vermeiden und stattdessen das Bild eines Persien am Ende der Schahzeit zu erzeugen. Eine magische Vorstellung von Männern mit Bärten, viel Brusthaar und großen Carrera-Sonnenbrillen unter der warmen Sonne Teherans, vermischt mit Sandstürmen, die den Abendhimmel so tiefrot und magisch werden lassen. Die beiden Hauptfiguren, ein homosexuelles Paar aus Deutschland, befindet sich auf einer Reise, die zunächst ein Spiegel Ihrer ungleichen Beziehung wird. Der Held ist ein Schwächling, zumindest könnte man seine Empfindsamkeit so deuten. Seine Schwäche in der Beziehung hat ihn zu einem Sklaven seiner eigenen Sehnsüchte werden lassen. Sein Freund, der intellektuelle Christoph, erschlägt seinen mitreisenden Protagonisten mit seiner geistigen Überlegenheit und seiner Schönheit. Dabei kränkt ihn seine eigene Wehrlosigkeit am meisten und sein Blick bleibt nur ungetrübt bei den Räumen, die sie betreten. Er, von Beruf Innenarchitekt, läßt seinen detaillierten Blick wie Oscar Wilde durch die Räume gleiten und denkt dabei Sätze wie: "Die gelben Schirme selbst waren aus gelbem Damast. Die Räume waren der genaue Ausdruck Europas, das Gegenteil Japans, sie drückten die äußere Opulenz perfekt aus, die Oberfläche, das Ausgeleuchtete, die Alte Welt und den unfehlbar guten Geschmack; schneeweiße Schafswoll-Dhurries lagen auf den Terracottaböden." Diese Stelle ist auch ein erster Vorgeschmack auf die Kollision von Ost und West, die im Buche folgt.
Krachts Buch wird nicht zu banaler Reiseliteratur, es belässt den Leser mit kleinen Schnipseln des Irans, des Schah, über Teheran; politisches wird zwar Ereignis und Handlungsintrument, spielt aber doch keine Rolle für die Selbstempfindung der Hauptfiguren. Sie sind gnadenlos unpolitisch. Die dramatische Wandlung kommt eher unerwartet auf einer Party, der Tod seines Freundes führt zur Selbstbefreiung des Helden, der sich auf eine surreale Art der Reise nach Tibet begibt. War es ihm auch anfangs unbedeutsam überhaupt intensiv zu leben, solange sein Freund Christopher für die unerfüllten Seiten stehen konnte, wird nun sein Ziel die vorrangige Sinnfindung und Selbstentdeckung. Keine Frage, Kracht macht sich über diese westliche Lebensform der Selbstfindung gerne auch mal lustig. Er vergisst seinen zynischen Humor nicht, wenn er geistesgestörte, tibetische Mönche den Weg kreuzen läßt und nicht länger dem Archetyp einer garantierten spirituellen Erleuchtung für jeden Hollywoodstar entspricht. Die Sinnreise wird für den Leser zur Beobachtung einer Verzweiflung, insbesondere wenn er selber den Sinn sucht. Die Handlung selber führt jede Illusion ad absurdum, das chinesische Staatswesen macht Schluß mit der Selbstfindung und somit spannt sich der weite Bogen zwischen West und Ost. Hier der Westen, der sich seiner materiellen Bedürfnisse erfüllt sieht und nun spirituelle Selbstfindung und Sinnsuche betreibt, dort die Reis und Wassersuppe fressenden Chinesen, für die Sinnsuche die dümmste Spielart des Westens darstellt. Das Ende lässt den Leser ziemlich armselig mit sich allein da, für den Helden sind die letzten Seiten menschlich erbärmlich, die Gedanken werden spärlich, die Zukunft ungewiss. Für Ihn endete die Sinnsuche bereits seit längerem, trotz unwürdiger Umstände ist er erstmalig zu direktem Erleben fähig und scheint in eine neue Form der Existenz zu transformieren. Die Geschichte einer trostlosen Existenz, die zur Selbstbefreiung und Entdeckung aufbricht und dabei die persönliche Freiheit und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung verliert. (©MB 2002)
Auch sehr empfehlenswert:
Christian
Kracht, Eckhart Nickel: Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der
Welt.202 Seiten - DTV, Mchn., € 9,- |
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