“Und wenn die Welten untergehn, / so bleibt die Welle doch bestehn. / Das Radio erzählt euch allen, / was immer neues vorgefallen. / Und funk ich hier ins Mikrofon, / hört man im Weltall jeden Ton. / Und bis in die Unendlichkeit, / erfährt man jede Neuigkeit. / Wir funken bis zum Untergang / ins Weltall kilometerlang.”
Dies ist ein Auszug aus Kurt Schwitters Gedicht “Schmidt-Lied” von 1927, dem Ralf Hutter von Kraftwerk geistesverwandschaftliche Nähe zu Ihrem 1975 Album “Radioaktivität” attestiert. Die deutsche Band hat zuletzt mit Ihrem Album “Tour de France” eine mitreissende Verquickung der Ästhetik des Radsports mit elektronischer Musik hergestellt. Auch dieses Album ist ein weiteres Beispiel für die Reinheit und Konsequenz ihres Konzeptes. Mit Dynamik und der mechanischen Arbeit eines Radfahrers ist für die Musiker ein Teil Ihrer Lebenswelt beschrieben, denn alle Mitglieder der Band, insbesondere Ralf Hütter, sind selbst passionierte Radfahrer, die einzelne Etappen der Tour selber nachfahren. Diese hier getankte Energie findet sich auf Ihren Alben wieder. Das Konzept ihrer Musik ist geprägt von der Verbindung von Technologie und Mensch. Sie streben mit Ihrer Arbeit an einen Flow zu erreichen, also den Moment, in dem Mensch und Maschine so zusammenarbeiten, daß die Musik ohne Anstrengungen fließt. Der trainierte Radfahrer erreicht diesen Flow ebenfalls, wenn er seine Kondition und die Dynamik seiner Bewegungen auf dem Rad verschmelzen kann. Kraftwerk hat sich aber nicht mit Musik begnügt, Ihre Bühnenshow als auch Ihre Alben sind reinste Konzeptkunst. Sowohl das Artwork Ihrer Alben als auch Ihre Auftritte sind geprägt von einer sehr strengen, reduzierten Optik, die durchaus Zitate des Bauhauses mit Bauteilen elektronischer Geräte älterer Generationen verbindet. Einfache, digitale Typographien flackern über den Musikern, die sich mechanisch wie Roboter bewegen. Dieses Konzept haben sie stetig verfolgt, wie eine historische Dokumentation von 1982 zeigt. Ein denkwürdiger Auftritt ist auch in der deutschen TV-Show “Na sowas” (!) zu sehen, bei dem sie Ihren Klassiker “Das Modell” zu Gehör brachten. Beim Betrachten fragt man sich, ob die waren Roboter im Publikum sitzen oder auf der Bühne stehen. Journalisten nennen diese roboterhaften Züge und diese Effektivität typisch “deutsch”. Und weil Kühle, Perfektionismus und Effizienz auch Attribute der japanischen Kultur sind, ist für viele Journalisten gleich klar, warum Kraftwerk in Japan die elektronische Musik so stark prägen konnte. Dumm ist aber die Behauptung, das Kraftwerks Musik unmenschlich ist. Was unmenschlich ist, daß ist gleichzusetzen mit faschistoid. Ergo, Kraftwerk ist die Musik des Faschismus. Das ist in keiner Weise nachvollziehbar, Kraftwerks Musik ist nicht autoritär. Jeder Musiker, der seine handgemachte Musik als menschlich bezeichnet vergißt, daß auch er eine Symbiose aus Mensch & Instrument (Maschine) anstrebt. Kraftwerk ist eben hier besonders konsequent und benutzt moderne Maschinen. Kraftwerk besetzten diese Verbindung positiv und sprechen von Menschmaschinen, niemals Maschinenmachinen, in denen die Maschine die Oberhand gewinnt. Doch Strenge und Disziplin ist die eine Dimension, Funktionalität und Exekution sind ebenso bedeutsam wie die faszinierenden Dimensionen von Automatismus, Robotik und Technologie für Kraftwerk. Gewiss, Strenge der politischen Landschaft im kaiserlichen Japan als auch im preussisch-militärischen Deutschland Wurzeln, wenn dies eine Verbindung ist, dann ist sie für die Perfektion sicher hilfreich. Wenn es aber eine Verbindung gibt, die die Trigonometrie Japan, Deutschland und Kraftwerk erklärt, dann die Passion für die Naturwissenschaften. So schließt sich der Kreis von Technologie, Mensch und Musik am ehesten. Kritik an der Wissenschaft, wie in Goethes Faust, Dürrenmatts Physikern oder Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer, ist ihnen aber fremd. Sie besetzen diese Verbindung positiv, sogar poetisch (Neonlicht als schönstes Beispiel). Daß das politische Argument völlig fehl am Platze ist, das erklärt doch schon die Verwendung von Kraftwerk Samples im Electrofunk (Afrika Bambataa), der seine Wurzeln in der afrikanischen Minderheit der USA besitzt. Es bleibt eine Lücke zwischen Leben und Wissenschaft zu schliessen. In dieser Lücke entsteht auch spannende Kunst, für die Kraftwerk ein lebendiges, richtungsweisendes Exempel bleibt.
P.S. Radioaktivität, der Titel des Albums, war eine kritische Auseinandersetzung mit der Atomkraft seitens der Band Kraftwerk. Sie entspricht dem damaligen Zeitgeist im liberalen bis linken Milieu der Zeit. Heute, in Anbetracht der Diskussion zur globalen Erwärmung frage ich mich, wann genau diese Bewegung formuliert, wie sie praktisch eine Lösung in der Energiepolitik ohne Atomkraft erreichen möchte.