Nach einem Theaterbesuch durchschaut das Kind Felix Krull Theater als eine einvernehmliche Täuschung.Gegeben wurde eine Operette. Star und Publikumsliebling dieser Aufführung war Müller-Rosé. Er spielte einen Gesandtschaftsattaché, einen sympathischen jungen Schwerenöter und Schürzenjäger.Mit Müller-Rosé war Felix´ Vater in seiner Pariser Zeit befreundet. Nach der Vorstellung besucht der Vater ihn in dessen Garderobe und nimmt den kleinen Felix mit. Auf respektvolles Anklopfen erfolgt eine unwillige, grobe Aufforderung einzutreten: “Ein Anblick von unvergesslicher Widerlichkeit bot sich dem Knaben dar. An einem schmutzigen Tisch und vor einem staubigen und beklecksten Spiegel saß Müller-Rosé, nichts weiter am Leibe als eine Unterhose aus grauem Trikot. Er ist dabei, seine fettige Schminke abzuwischen. Die eine Hälfte seines Gesichtes war noch bedeckt mit jener rosigen Schicht, die sein Antlitz vorhin so wächsern idealisch hatte erscheinen lassen, jetzt aber lächerlich rotgelb gegen die käsige Fahlheit der anderen, schon entfärbten Gesichtshälfte abstach. Da er die schön kastanienbraune Perücke mit durchgezogenem Scheitel […] abgelegt hatte, erkannte ich, dass er rothaarig war. Noch war sein eines Auge schwarz ummalt, und metallisch schwarz glänzender Staub haftete in den Wimpern, indes das andere nackt, wässerig, frech und vom Reiben entzündet den Besuchern entgegenblinzelte. Das alles jedoch hätte hingehen mögen, wenn nicht Brust, Schultern, Rücken und Oberarme Müller-Rosés mit Pickeln besät gewesen wären. Es waren abscheuliche Pickel, rot umrändert, mit Eiterköpfen versehen, auch blutend zum Teil. […] Dies also – so etwa gingen damals meine Gedanken -, dies verschmierte und aussätzige Individuum ist der Herzensdieb, zudem soeben die graue Menge sehnsüchtig emporträumte! Ihm war es gelungen, der Menge das Ideal ihres Herzens in seiner Person erblicken zu lassen und sie dadurch unendlich zu erbauen und zu beleben!”
Was war Müller-Rosés wahre Erscheinung? Der widerwärtige Kerl in der Garderobe oder die Lichtgestalt auf der Bühne?
“Und doch”, meint der Memoirenschreiber Felix Krull,” wieviel Bewunderung gebührt ihm nicht für das, was ihm heute gelang und offenbar täglich gelingt! Gebiete deinem Ekel und empfinde ganz, dass er es vermochte, sich in dem geheimen Bewusstsein und Gefühl dieser abscheulichen Pickel mit so betörender Selbstgefälligkeit vor der Menge zu bewegen, ja, unterstützt durch Licht und Fett, Musik und Entfernung, diese Menge das Ideal ihres Herzens in seiner Person erblicken zu lassen und sie dadurch unendlich zu erbauen und zu beleben. […] Welche Einmütigkeit in dem guten Willen, sich verführen zu lassen. […] Lediglich der Hang und Drang seines Herzens zu jener bedürftigen Menge hat ihn zu seinen Künsten geschickt gemacht; und wenn er ihr Lebensfreude spendet, sie ihn dafür mit Beifall sättigt, ist es nicht ein wechselseitiges Sich-Genüge-Tun, eine hochzeitliche Begegnung ihrer Begierden?”