The Black Saint and the Sinner Lady – Kreativität aus Konfrontation


Charles Mingus war einer der herausragendsten Vertreter der afroamerikanischen Kultur. Den Baß hat er revolutioniert wie vor ihm nur Ellingtons Sideman Jimmy Blanton, und das war, als er damit anfing, auch schon wieder ein gutes Jahrzehnt her. Seine Kompositionen waren zum Teil so bizarr wie schon ihre Titel und gehören doch zum Komplexesten und Wegweisendsten, das der Jazz in den letzten 20 oder 30 Jahren hervorgebracht hat. Seine Gruppen, wiewohl partiell geführt wie Strafkolonien, waren nichtsdestoweniger Talentschuppen ersten Ranges und brachten so ganz nebenbei die seit den Tagen von New Orleans verschüttet geglaubte Tradition der Kollektiv-Improvisation zurück, und wo der Durchschnittsbürger bei entsprechender Disposition Gefahr läuft, von den Spannungen einer chaotischen Seele zerfetzt zu werden, da wurden wir bei ihm dank eben dieser Spannungen nur zu häufig Zeugen von kreativen Ausbrüchen, die immer zugleich auch Aufbrüche zu neuen Ufern waren: Wiewohl selbst nie „Free Jazzer“ im eigentlichen Sinne, so hat Charles Mingus doch das Feld für den bis heute verbindlichen Neuen Jazz bestellt wie wohl nur wenige andere neben ihm. In seiner Autobiographie “Beneath The Underdog” beschreibt er sich in drei Personen gespalten: den unbeteiligten Betrachter; “das ängstliche Tier”, das angreift weil es Angst hat, selbst angegriffen zu werden. Und schließlich jener Sanfte, der sich ausnützen läßt – und der, wenn ihm das bewußt wird, zum Berserker werden kann. Mingus legte immer alles offen: er lebte seine Aggressionen und seine Neurosen unverhohlen aus – um nicht an sich selbst irre zu werden. Er galt als schwierig, cholerisch – und er wußte das. Er suchte die Konfrontation mit seinen Musikern, nicht die Harmonisierung. Und daß er dabei gelegentlich auch übers Ziel hinausschoß und handgreiflich wurde, ist hinreichend bekannt.
Mingus war sich seiner Schwächen, seiner Ausbrüche voll bewußt – er beschrieb sie fast exzessiv penibel in seiner Autobiographie. Mal verklärend, mal im Rahmen einer Privat-Mythologie, meist aber voller Ironie. Die Ironie desjenigen, der um seine Beschädigungen weiß, dem es aber nicht gelingt, sie zu ändern. Tatsächlich wäre es eine schmeichelhafte Untertreibung, Charles Mingus unberechenbar zu nennen. Wie also könnte seine Musik es sein? Sein – formal an Duke Ellingtons Suiten erinnernde – Großwerk “The Black Saint And The Sinner Lady” erzählt von der anhaltenden Auseinandersetzung zwischen den beiden Polen Unberechenbarkeit und formaler Gestaltung. Mit seinen ständige Finten und Hakenschlägen, den überraschenden Brüchen und abrupten Stilwechseln erweckt Mingus den Eindruck des collagehaften. Tatsächlich fanden die vielen Fragmente der Aufnahme-Sessions ihre letztendliche Form erst am Schneidetisch des Produzenten Bob Thiele.
Die Musik erhält hier eine Dichte, die Mingus zuvor noch nicht erreicht hatte. Sie reflektiert einerseits all die Inspirationsquellen, die er immer wieder neu mal als Zitat, dann wieder als Stil-Pastiche hatte einfließen lassen. Blues und Gospel, der Sound Duke Ellingtons, mexikanische Mariachi-Musik, die europäische Klassik (vornehmlich der französische Impressionismus). Andererseits aber sind all diese Elemente nur Fragmente in seiner eigenen Sprache. Zuweilen ist man an die Sprache des Deliriums erinnert: eine wilde Phantasie aus an- und abschwellenden Erregungszuständen.

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