Die Türkei. Ein Staat, den es so nur gibt, weil es Atatürk gab.
Atatürk ist heißt der Mann, der einmal Mustafa Kemal war. Als Soldat ein genialer Stratege, als Staatengründer ein Visionär. Er hat die Türken gerettet, er hat ihnen aus den Trümmern des osmanischen Reiches eine neue Republik gezimmert. Er hat Ihnen in all seiner Ungeduld den radikalen Bruch mit der Vergangenheit und die Hinwendung zu Europa über Nacht befohlen: Abschaffung des Kalifates, Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Raum, Gleichstellung der Frau, Ablösung der arabischen Schrift durch das lateinische Alphabet. Atatürk wollte den Türken an den Schädel – der bei Androhnung von Gefängnisstrafe befohlene Austausch von Fez und Turban gegen europäische Hüte war Programm. Zu seinem Erbe gehören aber auch ein autoritärer Einparteienstaat, eine Armee, die sich der Politik vorgeordnet fühlt – und eine Gefolgschaft, die schon bald nach seinem Tod nichts Eiligeres zu tun hatte, als Atatürk zu einem Halbgott zu erheben, der er wie jeder Mensch niemals war. Statt der Religion, vor allem also dem sunnitischen Islam als vorherrschender Religion der Türkei, schufen diesen den Kemalismus. Dieser verstellt den Weg darauf, daß auch Mustafa Kemal ein Mensch war, wenn auch ein Großer.
Mustafa Kemal war ein blonder Türke mit blauen Augen. Er liebte wie Bundeskanzler Schmidt in Deutschland die Zigarette. Er rauchte drei Schachteln am Tag, er trank Raki am Abend und er liebte die Frauen. Undenkbar für viele Türken, doch der Film von Can Dündar namens “Mustafa” wagte jüngst diese Darstellung des anderen Atatürk, des Menschen. Damit erschütterte dieser Film die Türkei, die Diskussion veranlasste gar Hürryet, die Bild-Zeitung der Türkei, schockiert zu schreiben, daß man geistigen Mord am Vorbild der Jugend begangen habe. Das hat Kemal nicht verdient, denn Kemal war nicht Gott, er war Mensch. Er starb an Leberzirrhose, keine Krankheit der Genügsamen und bescheidenen Lustverweigerer, auch keine Krankheit der Strenggläubigen.
Als er starb, hinterließ er ein Land, das einerseits von seinem autoritären Führungsstil und von seiner mitunter demonstrativen Härte bei der Ausschaltung politischer Gegner geprägt war, das sich andererseits aber westlicher Lebensart und aufklärerischem politischen Denken weit geöffnet hatte und sich anschickte, zu einem Brückenstaat zwischen islamischer und christlich-abendländischer Zivilisation zu werden. Ohne ihn wäre eine Diskussion über die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union völlig undenkbar.
Kemal ist der Begründer der modernen, Europa zugewandten Türkei und legitimen Nachfolgerin des osmanischen Reiches. Es gibt keine ähnliche Staatsform in der Welt wie die der Türkei. Seine Verdienste als Militär haben Kemal zum Gründer und Hauptvertreter des türkischen Selbstbehauptungswillens gemacht. Als Machtpolitiker von eigener Art, der die Modernisierung seines Landes nach westlichem Vorbild beharrlich vorantrieb, hat er mit der Abschaffung von Sultanat und Kalifat sowie mit weitreichenden gesellschaftlichen Reformen einen in dieser Form einmaligen Staatstypus geschaffen. Darauf beruhen – trotz einiger Schattenseiten seines Wirkens – die personenkultartige Verehrung, die ihm in der Türkei bis heute entgegengebracht wird, und die Unangefochtenheit des ihm 1934 vom türkischen Parlament verliehenen Nachnamens „Atatürk“, dem “Vater aller Türken”.