Udo Pollmer liebt die Provokation und tut dies wissenschaftlich mit besserer Untermauerung, als viele sogenannte Ernährungs- und Diätexperten, die meist nur eine Apologetenstudie an der Hand haben, die dann auch noch selbstreferenziert ist. Dem Spiegel gab er ein grandioses Interview (25/2005-S.78-79), daß dem Wahnsinn von Diäten und Ernährungsirrtümern die Luft rausläßt:
“Spiegel: Ratgeberbücher über Diäten erzielen hohe Auflagen. Haben wir zuviel Angst vor dem Essen?
Pollmer: Ja. Diese Angst ist Motor eines gewaltigen Marktes. Wer glaubt, Esssünden zu begehen, der ist für jeden Ablasshandel zu haben. Der Markt für Vitaminpillen zeigt die tiefe Verunsicherung der Menschen. Aber es bringt herzlich wenig, irgendwelche Nährstoffe einzuwerfen, die gerade in Mode sind. Der Körper weiß sich normalerweise sehr gut selbst zu helfen. Dazu braucht er bekömmliche Nahrung.
Spiegel: Gesund und bekömmlich, das muß sich ja nicht ausschliessen.
Pollmer: Nur was bekömmlich ist, kann auch gesund sein. Unbekömmliche Nahrung – wie Weizenvollkorn und Rohkostplatten – ist ungesund. Der Appetit ist kein heimtückischer Verführer, sondern ein freundlicher Hinweis des Körpers.
(…)
Spiegel: Aber die Tips für eine gesunde Ernährungweise sind doch nicht einfach von der Hand zu weisen?
Pollmer: Warum gibt es denn alle paar Wochen eine neue Superdiät? Weil man damit etwa schlank wird? Warum gibt es alle paar Jahre runderneuerte Ernährungsempfehlungen?
Spiegel: Sie plädieren ernsthaft dafür, ganz auf Ratgeber zu verzichten?
Pollmer: Es gibt doch fast nichts mehr, was nicht schon einmal verboten war und dann wieder empfohlen wurde, weil “gesund”. (…) Erinnern Sie sich noch an die Zeiten, als Fleisch ein Stück Lebenskraft war und die Ernährungsexperten gegen den Vegetarismus wetterten?Damals brauchten wir noch den Verdauerungstrakt eines Marders. Dann kann die Körnerwelle für alle jene mit Schnabel und Muskelmagen. Und jetzt brauchen wir den Pansen einer Kuh (Salat, Anmerkung); aber wir sind immer noch die gleichen Menschen wie damals. Das ist doch alles Hokuspokus!
(…)
Spiegel: Gefallen Sie sich in der Rolle des Enfant terrible?
Pollmer: Ich gehörde zu der exotischen Minderheit, die sich den Luxus leistet zu sagen: Wenn die Menschheit nicht so funktioniert, wie die Theorie will, dann müssen wir die Theorie ändern. Die anderen versuchen seit Jahrzehnten, ohne jeden Erfolg, die Menschheit zu ändern.
(…)
Nehmen Sie den Rat, ständig was zu trinken. Die Folge sind mitunter Wasservergiftungen. Dabei kommt es zu Lungen- und Gehirnödemen. Nicht nur bei Sportlern gab es Todesfälle; die schwitzen das Salz raus und gleichzeitig überladen sie sich mit Wasser. (…) Opfer sind auch junge Frauen, die meinen, ihre Diät besser durchzuhalten, wenn sie ständig am Wasserglas nippen.
Spiegel: Aber es kann doch nicht falsch sein, die empfohlene Menge zu trinken?
Pollmer: Wir sollen nach den Empfehlungen sogar trinken, bevor wir Durst haben. Wozu hat der Herrgott den Menschen den Durst eigentlich auf den Weg gegeben?? Wenn wir uns nicht mit salzarmer Kost austricksten, funktioniert dieses System ziemlich perfekt. Aber wenn Sie meinen, man müsse sogar die Trinkmenge vorschreiben, möchte ich in aller Bescheidenheit fragen, ob eine Gurke, die etwa zu 97% aus Wasser besteht, als Flüssigkeit zählt? Fruchtsäfte oder Limos liefern höchstens 90%. Der Hauptbestandteil der meisten Lebensmittel ist Wasser.
(…)
Spiegel: Wollen Sie damit die moderne Wissenschaft in Zweifel ziehen?
Pollmer: Was haben die Ernährungstipps mit Wissenschaft zu tun? Diese würde eher vor zu viel Rohkost und Körnern warnen. Pflanzen produzieren Abwehrstoffe gegen Tiere, damit sie nicht gefressen werden. Deshalb haben die meisten Menschen erhebliche Verdauungsprobleme, wenn sie rohes Getreide und andere Rohkost essen. Unlängst unterzogen US-Toxikologen handelsübliche Gemüse den Tests, die normale Pestizide bestehen müssen, um zugelassen zu werden. Das Ergebnis war wenig erbaulich: Brokkoli oder Soja dürften nicht einmal als Pflanzenschutzmittel verwendet werden. Denn Sie erwiesen sich als ergutschädigend oder entfalteten unerwünschte hormonelle Wirkungen.
Spiegel: Was sind das für Stoffe?
Pollmer: Beispielsweise Indol-3-Carbinol, eine Substanz, die als natürlicher Abwehrstoff im Brokkoli vorkommt. Sie fördert Krebs, und zwar über den gleichen Mechanismus wie das berüchtigte Seveso-Gift Dioxin. Allerdings müssen sie nicht auf Ihr Gemüse verzichten, denn das Kochen zerört viele unerwünschte Naturstoffe. Aber wenn Kinder Brokkoli nicht mögen, ist das vielleicht ein freundliches Zeichen, dass dieses Gemüse für sie nicht so geeignet ist.
Spiegel: Worauf soll der Verbraucher denn vertrauen?
Pollmer: Auf seinen Körper, seinen Appetitt, seinen Hunger, seinen Durst, auf seinen gesunden Menschenverstand.”
Interview von Udo Ludwig, Norbert F. Pötzl