“Wenn jemand … nur noch danach fragt, ob Behauptungen ihm in den Kram passen oder nicht, kann seine Wahrnehmung der Realität darunter leiden oder sogar verloren gehen.” Für Harry G. Frankfurt ist dies die zentrale Säule für die Erklärung dessen, was heute “Bullshit” ist. Wir sind regelrecht umzingelt von Bullshit: inhaltsleerem Geschwätz, sprachlichen Hohlheiten, die irgendeinen Effekt erzielen, aber nichts aussagen wollen. Warum tolerieren wir so viel Bullshit, obwohl er doch ein größerer Feind der Wahrheit ist als die Lüge? Bullshit nagt kontinuierlich an unseren sicheren Überzeugungen, die wir aus Wissen, Logik, Debatte und Ratio ziehen. Wie dauerhafte Gehirnwäsche vollzieht er sich schleichend und vernebelt unsere Sicht der Dinge. Schlimmer aber noch als die Allmacht des Bullshit ist seine Verquickung mit seinem besten Freund: der Verschwörungstheorie. Die Ursachen dafür, daß Menschen Verschwörungstheorien zuneigen, sind vielseitig und unterliegen Schwankungen:
1.) Die Bedrohung einer Gesellschaft insgesamt – hierbei können Bedrohungen durch andere Staaten, Völker oder Religionen ausschlaggebend sein, auch wenn diese Bedrohungsangst irrational oder frei erfunden sein kann (bspw. Sündenbocktheorie im 3ten Reich)
2.) Aufgeklärtheit einer Gesellschaft oder Individuums – Verschwörungstheorien im konspirationistischen Sinne reduzieren Komplexität: Sie lösen unübersichtliche und diffuse Situationen dadurch auf, dass sie sie auf einzelne bekannte Phänomene zurückführen und damit bearbeitbar machen. Die Situation mag immer noch bedrohlich sein, unerklärlich ist sie nicht mehr.
3.) Dialektik der Aufklärung: Das Aufkommen der Verschwörungsideologien hängt gerade mit der Aufklärung und Säkularisierung zusammen, die irrationale Welterklärungen durch rationales Wissen ablösen und zurückdrängen will; wenn man nicht mehr alles mit dem Wirken eines allmächtigen Gottes erklären kann, wächst die Neigung, unerfreuliche Phänomene den Machenschaften einer Verschwörergruppe zuzuschreiben, da irgendjemand ja dafür verantwortlich sein muss.
4.) Verschwörungstheorie als religiöse Verschwörung: Gerade dort, wo die Welt säkularisiert ist, wo also der Gottesbezug die Kontingenz der Welt nicht mehr erklärt, setzt die Verschwörungstheorie zur Welterklärung ein. Nicht mehr widergöttliche Kräfte sind Ursache des Bösen, sondern eine „große Verschwörung“ gilt als die treibende Kraft der Geschichte
5.) Die unterschiedliche Akzeptanz oppositioneller Gruppen: Nach der letzten Hypothese wäre eine notwendige Bedingung für die Beliebtheit von Verschwörungsideologien in einer Gesellschaft die fehlende Akzeptanz einer Opposition. Wenn es erlaubt ist, gegen die Regierung aufzutreten, schwindet die Versuchung, derartige Bestrebungen als Verschwörung zu ächten: Sie sind dann keine Verschwörung mehr, die sich vielleicht schon aus Furcht vor politischer Verfolgung konspirativer Mittel bedienen muss, sondern eine legitime Oppositionspartei.
6.) Psychologische Gründe: Laut den amerikanischen Psychologen Jennifer Whitson und Adam Galinsky sind Personen, wenn sie glauben, keine Kontrolle über die Situation zu haben, in der sie sich befinden, anfälliger für Verschwörungstheorien und Aberglauben. Sie tendieren dann dazu, überall Muster und Verbindungen zu sehen – selbst dort, wo es gar keine gibt – oder abergläubische Rituale mit einer Situation zu assoziieren. Suggeriert man Menschen, die Kontrolle über eine Situation verloren zu haben, so suchen sie auch im scheinbaren Chaos nach Halt. Kontrollverlust wird von der Psyche als extrem starke Bedrohung wahrgenommen. Der starke Versuch, sie wieder herzustellen, kann auch die Wahrnehmung der Realität beeinflussen und man erzeugt sich mit Hilfe von „mentaler Gymnastik“ eine imaginäre Ordnung. Eine Möglichkeit ist, nach Strukturen zu suchen, um die Situation besser verstehen und zukünftige Entwicklungen vorhersagen zu können. Man sucht nach Mustern – und, wenn es keine gibt, baut man durch Sinnestäuschungen welche ein. Man sieht Muster und Verbindungen, welche nicht existieren. Um auszuschließen, dass es sich bei den Versuchspersonen um generell verunsicherte Menschen handelte, die unabhängig vom Kontext ordnende Strukturen suchen, suggerierte man ihnen Sicherheit. Dann unterschieden sich die Ergebnisse nicht mehr von den anderen Versuchspersonen. Bei Kontrollverlust werden auch angebotene einfache Zusammenhänge und Lösungen dankbar angenommen.
So sind folglich gerade Menschen, die in einen starken religiösen Kontext hineingeboren sind oder Ihr Sein als politisch einflusslos begreifen, besonders irritiert durch die konfuse Unübersichtlichkeit der modernen Welt. Sie finden die Welt aus dem ehemaligen Ordnungsrahmen von Religion oder Ihrer Staatsdoktrin herausgerissen vor. Ergo antworten Sie mit einer vereinfachten Weltsicht, in der die Säulen der Religion auch wieder Bedeutung erlangen können, da sie Ordnung und Übersicht vermitteln, die kognitive Dissonanzen auflösen können.
Ähnlich wird auch in den Verschwörungsideologien argumentiert, die gegenwärtig in der islamischen Welt florieren. Hier ist eine Mischung zu beobachten, die sich aus den Verschwörungstheorien zum 11. September, aus teils klassischen, teils antiimperialistisch modernisierten antisemitischen Verschwörungstheorien und aus verschwörungstheoretischen Versuchen zusammensetzt, für die geringen Entwicklungserfolge, die die arabische Welt in den letzten hundert Jahren erzielt hat, einen Sündenbock zu finden. Obwohl diese antisemitischen Verschwörungstheorien an einige judenfeindliche Stellen im Koran anknüpfen können (z. B. Sure 4, Vers 155), werden sie von den meisten Islamwissenschaftlern heute nicht als genuine Frucht des Islam, sondern als Import ursprünglich europäischen Gedankenguts interpretiert. Virulent wurden diese Verschwörungstheorien vor allem seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 – spätestens seitdem wird Israel als Agent der imperialistischen USA hingestellt, deren Ziel es sei, eine Weltherrschaft zu errichten und entweder den Islam oder die Besonderheiten der Völker zu vernichten. So behauptete der damalige malaysische Premierminister Mahathir bin Mohamad auf einer Tagung der Organisation der Islamischen Konferenz 2003, „die Juden“ würden die Welt durch Stellvertreter regieren und hätten zu diesem Zweck den Sozialismus, den Kommunismus, die Demokratie und die Menschenrechte erfunden. Der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad verkündete am 26. Oktober 2005 auf einer Konferenz zum Thema „Die Welt ohne Zionismus“:
- Dieses Besatzerregime (gemeint war Israel) stellt tatsächlich einen Brückenkopf der Welt der Arroganz im Herzen der islamischen Welt dar. Sie haben eine Festung errichtet, von der sie ihre Herrschaft auf die gesamte islamische Welt ausdehnen wollen. Darüber hinaus gibt es weder Grund noch Zweck für dieses Land.
Es ist unglaublich, das Staatschef in der “modernen” Welt diese Aussagen äußern können, ohne im eigenen Land mit Kritik leben zu müssen. Auch bei Kritikern der islamistischen oder patriarchal-autoritären Regime sind teils verschwörungstheoretische Elemente zu finden. Die ägyptische Menschenrechtlerin Nawal al-Saadawi zum Beispiel ist der Meinung, dass die arabischen Despoten auch „immer im Auftrag des amerikanischen und israelischen Kolonialismus“ gestanden haben.