Erfolg zu haben, gilt in unserer Gesellschaft als Mass aller Dinge. Der Zwang zum Erfolg aber bedrängt uns nicht nur äusserlich, er verformt uns auch innerlich. Denn um Erfolg zu haben, muss man ein Erfolgstyp sein – dynamisch, tatkräftig, rücksichtslos. So tobt im Alltag eine Schlacht, die niemals Pause macht.
Der zeitgenössischen Schule der Verhaltensökonomie («Behavioral Economics») verdanken wir erhellende Einsichten darin, wie sich Menschen in bestimmten Situationen verhalten und wie, umgekehrt, die Situationen und die Umstände das Verhalten von Menschen modellieren. Der «Spiegel» berichtete unlängst über eine verhaltensökonomische Spielanordnung Folgendes: «Psychologen liessen Studententeams einen kleinen Aufsatz verfassen. Jeweils zwei der Teilnehmer schrieben, einer sollte die Leistung der anderen beiden bewerten. Nach 30 Minuten kam der Studienleiter hinein und brachte einen Teller mit Keksen. Vermeintlich zur Stärkung, tatsächlich aber als Teil des Experiments. Die Aufzeichnung zeigte: Die Leistungsbewerter, also quasi die Vorgesetzten in dieser Situation, griffen nicht nur rücksichtslos nach den letzten Keksen, sondern krümelten auch besonders ungeniert herum. 30 Minuten in einer zufällig zugeordneten Führungsrolle hatten ausgereicht, um ihren Wertekompass zu verändern.»
Lässige Selbstverständlichkeit
In einem anderen Experiment wurde getestet, ob Leute bereit sind, zu lügen und zu betrügen, um 50 Dollar zu gewinnen. Man hat diese Spielanordnung mit Leuten überprüft, die 100 000 Dollar auf ihrem Bankkonto hatten, und mit Leuten, die dort nur 80 Dollar hatten. Man hätte davon ausgehen können, dass die zusätzlichen 50 Dollar für die Leute aus der 100’000-Dollar-Klasse belanglos, für die aus der 80-Dollar-Klasse dagegen viel wichtiger wären. Tatsächlich aber waren die aus der 100 000-Dollar-Liga eher bereit, moralische Grenzen zu überschreiten, um an die zusätzliche Kohle zu kommen. Um genauer zu sein: Sie haben moralische Grenzen als solche gar nicht erkannt.
Wir leben in einer Erfolgs- und Wettbewerbsgesellschaft, und deren phänotypische Figur ist der «Erfolgsmensch». Der Erfolgsmensch ist ja nicht bloss wie der geniale Pianist, der kunstfertige Handwerker oder der geniale Mittelfeldregisseur im Fussball in irgendetwas besonders gut – ja, solche Art von präzise definierbarem Können hat er meist nicht nötig –, sondern er ist vor allem erfolgreich darin, erfolgreich zu sein.
In einer fluiden, oft entmaterialisierten Ökonomie, in der viel auf Image beruht, ist der erfolgreich, der es versteht, erfolgreich als erfolgreich zu erscheinen. Erfolg ist heute, wie das der Soziologe Sighard Neckel formuliert, eine «Zuschreibungskategorie und entsteht im Medium der Wertungen Dritter. Erfolge müssen auffallend sein und möglichst frappant dargestellt werden.» Neckel spricht von einer «performativen Ökonomie».
Erfolg ist da primär Habitus. Hat man die Körpersprache, die einen als Erfolgreichen ausweist? Die lässige Selbstverständlichkeit, die von Unverschämtheit schwer zu unterscheiden ist, mit der sich der Erfolgreiche wie im Laborexperiment die Kekse einfach nimmt, weil ihm die Gewissheit zur zweiten Natur geworden ist, sie würden ihm zustehen? Diese Körperhaltung und die Ausstrahlung sind heute der Schlüssel zum Erfolg, nicht das Können in irgendeinem Fachbereich. Der Erfolgsmensch ist eine anthropologische Mutation.
Gewiss gibt es die Selbstdarsteller, bei denen wir sofort und instinktiv einen Charakterfehler vermuten. Aber die sind nicht der Kern des Problems. Wichtiger ist: Es kann sich dem ja kaum jemand entziehen. Es beginnt ja nicht erst bei den CEO und Spitzenmanagern mit ihrer mitunter peinlichen Präpotenz. Jeder, der überhaupt nur in die Lage kommen will, seine Arbeit nur einigermassen ungehindert zu erledigen, muss das heute ausstrahlen: ein Erfolgstyp zu sein. Jedenfalls macht es die Sache erheblich leichter.
Es dringt ja durch jede Pore, und spätestens in der Fachschule lernst du: Sei eine Marke. Sei etwas Besonderes, so dass jeder merkt, dass es auf dich ankommt. Der Erfolgsmensch startet in den Tag, indem er sich aufpumpt. Mit Adrenalin. Mit Ego. Eigenblutdoping. Bescheidenheit oder auch nur Stille sind nicht erlaubt. Stille bringt dich an den Rand des Abgrunds, Bescheidenheit stürzt dich hinab. Spannkraft. Brust raus. Kopf hoch. Energie. All das muss man dem Erfolgsmenschen ansehen, und er müht sich, dass man es ihm in jedem Moment ansieht. Aber dass er sich müht, darf man ihm nicht ansehen. Es muss ja sein zweites Ich sein, nein, sein erstes Ich, und muss daher mit aller Natürlichkeit daherkommen, ohne jede Mühe. Der Wille zum Erfolg.
«Den Erfolgreichen bleibt der Erfolg so lange treu, wie sie den Eindruck des Erfolgs zu vermitteln vermögen. Die Siegesgewissheit räumt alle Zweifel aus dem Weg», schreibt der Soziologe Heinz Bude in seinem kürzlich veröffentlichten Buch «Gesellschaft der Angst». Der Erfolgsmensch ist der «Alpha-Typ», mit Attributen belegt wie «die Gewitzten, Ausgeschlafenen, Abgebrühten».
Spirale der Wichtigkeit
Längst ist all das über die Ufer jener gesellschaftlichen Zonen getreten, in denen die Wichtigtuerei früher daheim war. Wer etwa als bedeutender Maler gilt, der ist ein bedeutender Maler – es ist ja auch keine andere objektivierbarere Kategorie mehr vorstellbar. Und wer als bedeutender Maler gilt, dessen Bilder erzielen die höchsten Preise. Der, dessen Bilder die höchsten Preise erzielen, ist folglich der bedeutendste Maler der Gegenwart. In TV-Talkshows treten Journalisten auf, die als wichtige Journalisten gelten, selbst dann, wenn sie praktisch keiner anderen journalistischen Tätigkeit nachgehen, als im TV wichtige Journalisten darzustellen. Die Liste liesse sich fortsetzen.
«Meine Droge heisst Erfolg», rappt der gefeierte deutsche Gangsta-Poet «Haftbefehl». In Reinald Goetz’ Roman «Johann Holtrop» ist dem Typus ein literarisches Denkmal gesetzt: Holtrop ist der «exzessiv von sich selbst eingenommene, innerlich enthemmte Ichidiot, egoman verkrüppelt. Aber: allen gefiel das, überall kam der neue Egostil gut an. (. . .) unsympathisch, angeberhaft, grobianisch, selbstgefällig dröhnend».
Der Erfolgsmensch muss sich erfolgreich ummontieren, bis er selbst das alles glaubt, was er darzustellen versucht. Er muss ein Schauspieler sein, der ganz zu seiner Figur wird. Er muss daran glauben, dass er der ist, der der Konkurrenz stets einen Wimpernschlag voraus ist, wie die Hochfrequenztrader mit ihren Hochleistungskabeln, die ihnen die eine Nanosekunde Vorsprung vor der Konkurrenz verschaffen. Die Wettbewerbsgesellschaft und ihre Erfolgskultur sind eine Kriegszone, im Büro tobt eine Schlacht, die niemals Pause macht.
«Das Leben wird zum Kampf als Dauerzustand», konnte man jüngst in der deutschen «Wirtschaftswoche» lesen, wahrlich kein antikapitalistisches Nörglermagazin. Titel der Story: «Der Zwang zum Erfolg macht uns fertig». Nichts ist für den Erfolgsmenschen tödlicher als die Vorstellung, normal zu sein. Wer normal sein will, hat schon verloren. Niemand will heute mehr normal sein. Normal zu sein, das ist heute abnormal. Oder anders: Abnorm, das ist das neue Normal.
Unlängst sass ich mit einem sympathischen, klugen Gewerkschafter, der übrigens nichts von all dem ausstrahlte, in einer Hochschulkantine, da sagte dieser den Satz: «Ich glaube ja, die meisten Leute wollen einfach normal sein, aber sie wissen gar nicht mehr, wie das geht.» Der Satz arbeitete in mir, weil er ja eigentlich eine Horrorvorstellung ausdrückt. Hätte er gesagt: «. . . aber die gesellschaftlichen Umstände erlauben es ihnen nicht» oder «. . . sie wagen es nicht» oder etwas in dieser Art, der Satz hätte zwar auch keinen erfreulichen Sachverhalt beschrieben, aber er hätte weniger Schrecken enthalten. Er wäre sogar belanglos gewesen.
Eine Gesellschaft, in der wir lernen, stets Winnertypen sein zu müssen, produziert ein Verlernen. Es gibt dann nicht mehr zwei Optionen, zwischen denen man wählen kann, auch wenn die Wahl keine freie ist, weil mit der einen Option alle Vorteile und mit der anderen alle Nachteile verbunden sind. Es ist noch schlimmer: Es gibt die zweite Option nicht mehr, wenn man sie schier nicht mehr kennt. Wenn du immer ein Besonderer sein musst, um Achtung anderer zu gewinnen, und die Achtung anderer die Quelle deiner eigenen Selbstachtung ist, dann weisst du bald nicht mehr, wie du normal sein und dich selbst achten kannst. Es ist wie bei Brechts Galy Gay: Der Mensch wird umgeschraubt und ummontiert und macht an seiner Ummontage mit, bis er sich selbst verliert.
Abschied vom Generaldirektor
Der moderne Erfolgsmensch kennt sich selbst nicht mehr, könnte man formulieren, käme darin nicht ein fragwürdiges Verständnis des Selbst zum Ausdruck, als gäbe es ein vorgängiges Selbst des Individuums, das vor dessen gesellschaftlicher Existenz da ist – gewissermassen ein «eigentliches» Selbst. Der Zwang, sich den habituellen Eigenschaften des zeitgenössischen Erfolgsmenschen-Typus anzuverwandeln, sinkt hinab bis in mittlere und untere Chargen, so dass selbst der einfachste Angestellte und neue Selbständige stets als aufgeweckter Machertyp erscheinen muss. Die Charaktereigenschaften, die da gefragt sind, springen am besten ins Auge, wenn man sie mit den geforderten Typologien früherer Zeiten vergleicht. Früher war die Leitfigur die des Generaldirektors mit seiner gelassenen Würde, die ihrerseits am Vorbild des Sektionschefs oder Ministerialdirigenten modelliert war und die Aufgeblasenheit nicht benötigte, da ihm der Respekt der Untergebenen qua Position zuflog. Heute ist eher die Hyperventiliertheit des entschlossenen Entscheiders gefragt, Modell menschliche Dampfwalze, schnell wirbelnd, stets unter Strom. Es ist nicht ohne Ironie, dass sie alle als unverwechselbare Individuen erscheinen wollen und sich dennoch bis auf Haar und Faser gleichen.
Der Erfolgsmensch ist Gefangener der Erfolgskultur, die aber selbst glaubt, sie wäre die bisher höchste Stufe der Freiheit, weil in ihr das Ich ungekannte Höhen der Selbstverwirklichung erklimmen kann. Sie wird von gefangenen Befreiten bewohnt, weil sie jene Form der Unterdrückung ist, die als Freiheit empfunden wird.
Robert Misik, Jahrgang 1966, lebt als Journalist und politischer Schriftsteller in Wien.