Verschwörungstheorien suchen die Sündenböcke der jeweiligen Epochen. In der Zeitung “Die Welt” wurde kurz und stimmig erklärt, worin alle Verschwörungstheoretiker ihre Gemeinsamkeiten haben; das bilden einer Theorie als ein urmenschlicher Drang, die Welt zu verstehen. Eine komplizierte und überkomplexe Welt, deren Zufälle wir nicht verstehen, versuchen wir dennoch mit Mustern zu erklären. So ist unser Verstand angelegt, manche sind besonders anfällig in Ihrem (etwas faulen wie misstrauischen) Denken und brauchen somit die Verschwörung, um Ihre eigene Machtlosigkeit und Ihre Wut darüber zu kompensieren.
Verschwörungstheorien mögen sich im Laufe der Jahrhunderte geändert haben, doch für sich genommen bilden sie eine anthropologische Konstante, die die Wissenschaft kennt. Ihr zufolge gab es solche Thesen zu allen Epochen und in allen Schichten, angefangen in der Antike bis in unser “hyper”aufgeklärtes Internetzeitalter; zu ihren Anhängern zählten einfache Leute ebenso wie Staatsführer und Präsidenten. Am Anfang jeder großen Theorie stand eine Krise: verheerende Kriege, Krankheiten, Missernten, politische Umstürze, soziale Umwälzungen oder Angst vor totaler Vernichtung. Jede Epoche fand dafür Sündenböcke: im Mittelalter (bis heute) die Juden und die Hexen, im 21. Jahrhundert westliche Nachrichtendienste oder mächtige Geheimbünde, selbst die Freimaurer werden immer noch verdächtigt, trotz all Ihren Bemühungen um Transparenz und Öffnung nach Außen.
Ein anderer wissenschaftlicher Ansatz erklärt sie dagegen als eine Art Ersatzreligion: Denn mit der Demontage Gottes – Nietzsche lässt grüßen – und damit auch des Satans fehlte plötzlich ein Schuldiger für das unerklärliche Durcheinander in der Welt. Verschwörungstheorien füllen diese Lücke, sie bieten Struktur und Sinn. So besehen sind sie der Preis, den die Gesellschaft für die Aufklärung zahlen musste. Ich würde selbst hinzufügen, dass es einen bestimmten Teil unserer Gesellschaft gibt, der trotz aller Bildungsbemühungen leichtgläubig bis naiv denkt. Diese Leichtgläubigkeit geht bis hin zum schlichten Schwachsinn, der physiologisch von einem tiefreligiösen Denken schwer zu unterscheiden ist. Schwachsinnige wie äußerst Dumme suchen sich Ihr Futter selbst und sie sind in der Regel auch offen für Alternativen. Vielleicht begünstigt sogar das autoritäre Verhalten der Kirchen, dass abseitige, weniger autoritär daher kommende Erklärungen, bevorzugt werden, auch wenn sie noch viel irrationaler sind als religiöse Erklärungsmuster. Michael Butter erforscht Verschwörungstheorien. Sein Favorit ist die These zur Mondlandung, die angeblich nie stattfand – und bei der die US-Fahne eine zentrale Rolle spielt.
Was die Thesen so verführerisch macht, ist ihr Grundprinzip: Sie zerlegen das Weltgeschehen in einen binären Code aus Gut und Böse. Und wer diesen Code einmal dechiffriert hat, so das implizite Versprechen, der weiß die Zeichen zu lesen, die uns alle umgeben. Der lässt sich nicht mehr hinters Licht führen und besitzt in einem unübersichtlichen, multikausalen und chaotischen Umfeld den Schlüssel zu einem rar gewordenen Gut – Gewissheit.
“Die Welt wird dadurch planbar und verstehbar”, sagt Michael Butter, “denn theoretisch ist es ja vorstellbar, dass die Verschwörung besiegt wird – und man dann in einer Welt lebt, in der man selbst die Strippen ziehen kann.” Hier wird nochmal der Zusammenhang klar zwischen Machtlosigkeit, eigener Opferrolle, dem Suchen des Sündenbockes, dem Glauben daran, die Welt lasse sich zentral steuern (eben Gottgleich) und dem stillen Wunsch, auch mal Autorität über andere zu haben. Das ist ihnen im Mikrokosmos der Anhänger von Verschwörungstheorien ja auch möglich: Ich erkläre Dir die Theorie, Du bist geplättet von meiner klaren Sicht der Dinge und ich preise Dich wie einen Priester, wie einen von der Wahrheit geweihten. Dass alles nur Illusion und Humbug ist, ist aber nicht immer so. Man muß es schlichtweg so nennen, aber als Edward Snowden die Tiefe und Größe des digitalen Überwachungsapparates offenbar machte, klang dies alles ganz klar nach Verschwörungstheorie. Dass dies aber nicht so wahr, sondern tatsächlich den Tatsachen entspricht, hat auch den rationalsten, vertrauensseligen Bürger nachhaltig erschüttert. Das Vertrauen gegenüber den Staaten ist geschwunden und wenn auch fabulöse Verschwörungstheorien über Aliens, Area 51 und das jüdische Zinssystem stets schnell verworfen werden können, so bleibt doch ein nachhaltiger Beigeschmack: In Zeiten des Internet sollte man schlichtweg alles erstmal wieder mit einem Fragezeichen versehen. Edward Snowden hat die westliche Welt nachhaltig erschüttert – dies ist gleichsam Verdient wie ein Fluch, denn manchmal ist es schlicht eine Frage der eigenen Kraft, Vertrauen zu besitzen. Es reduziert die Informationskomplexität, ich muss nicht alles wissen und dennoch kooperieren Subjekte erfolgreich miteinander. Dieses Vertrauen des Bürgers in seinen Staat ist schwer gestört und Verschwörungstheoretiker tun das Ihrige, um das weiter zu unterfüttern. Es ist, das darf man nicht vergessen, ein großes Geschäft. Wie die Religion es praktiziert eben auch ist, können die Erklärer der Welt damit einen guten Euro machen. Wer interessiert sich da schon, im Nietzschessen Sinne für die Wahrheit?