Eines der größten Heuchlerthemen und Tummelort für Links- wie Rechtsradikale und nun auch der SPD ist das Thema Zuwanderung. Von kanadischem Quotensystem ist da die Rede, von qualifizierter Zuwanderung. Damit schützt man auch die guten Sozialsysteme vor Missbrauch. Die größte Heuchelei vorab ist die, dass wir Deutsche glauben, unser Wohlstand allein macht uns schon attraktiv für Zuwanderer.
Für leistungsorientierte, talentierte Menschen ist Deutschland aber auch ein Land schlechten Wetters, mit starker Konformität in der Arbeitswelt und mit Menschen von genauso mieser Stimmung wie das Wetter. Deutsche, so kennt man sie, geben sich offen und schützen die Minderheiten, aber genauso wie beim Essen mögen sie am liebsten das, was sie schon kennen. Zwar greifen wir gerne Inspirationen auf für unsere Küche, bei gesellschaftlichen Veränderungen wie zuletzt dem Islam dagegen regiert eher die Angst. Noch für Polen sind wir das Nachbarland, dass nah an Ihrer Heimat und somit eine interessante Option ohne viel Risiko. Für Asiaten oder Südamerikaner dagegen immer die schlechtere Wahl, vor allem nach englischsprachigen Ländern wie Neuseeland, Australien, England oder, na klar, vor allem den USA.
Wie werden wir denn wahrgenommen? Reich, fleißig, diszipliniert. Doch auch alt und dick und voller klarer Vorstellungen, wie der Genitiv zu deklinieren ist. Für das Savoir Vivre sind eher unsere Nachbarn bekannt, aber Frankreich und Italien sind noch schlechtere Alternativen, wenn es um die Wirtschaft geht. Bei der Sprache sind wir hingegen schnell dabei, zu korrigieren und bescheinigen erst demjenigen ein gutes Deutsch, der es auch noch akzentfrei spricht. Man stelle sich das in England oder den USA vor! Ich habe meine eigenen Erfahrungen hierzu in meiner Bekanntschaft bzw. engeren Verwandschaft gemacht: Ob sie promovierter Mathematiker aus Oxford spanischer Herkunft oder Ingenieur als Brasilien: Ihre Ausbildung wird gerne als nicht kompatibel diskriminiert (halbes Diplom, halber Ingenieur) und sie selbst erleben es an Ihrer Person dann, wenn Ihr Akzent zu hören ist. Ein falscher Konjunktiv? Oh, das zeugt von schlechter Bildung, der kann sicher kein guter Mathematiker sein. Nicht weniger nett sind wir, wenn es um andere Religionen oder Rassen geht. Brandbomben vor Asylbewerberheimen kennt man in den USA schlicht nicht. Unseren schwierigen Umgang mit anderen Religionen auch nicht – in den USA sind selbst die Christen unendlich divers, wo wir nur zwei Gemeinschaften kennen, nämlich Protestanten und Katholiken.
Wir, die offene Gesellschaft in Deutschland, haben Angst vor Pegida und AfD. Diese Bewegungen, die immer stärker zunehmen in einem komplexen, globalisierten Szenario. Doch es sind genau diese alten Besitzstandswahrern, diejenigen mit Abstiegsängsten und Komplexyen, die unserem potentiellen Zuwanderern mit Drohgebärde gegenüber stehen. Es gibt sie aber auch bei den Wählern der SPD und der CDU: Zuwanderung von Pflegerinnen, die wir nicht haben, gerne. ABer bitte aus Skandinavien, von Mehmet wollen wir uns den Hintern nicht putzen lassen. Ärzte, ja, die hätten wir gerne (natürlich die Besten), aber Facharbeiter erst dann, wenn auch der letzte Deutsche Facharbeiter zuerst beschäftigt wurde. Können wir noch mehr Utopien benennnen als diese? Es ist praktisch schlicht nicht möglich, so eine Zuwanderung zu steuern oder zu erzeugen.
Selektive Zuwanderung ist eine Heuchelei. Entweder, wir sind eine offene Gesellschaft, die leistungsorientiert ist und Zuwanderung und kulturelle Diversität begrüßt. Dann werden wir sicher bei einigen qualifizierten Zuwanderern vor allem innerhalb Europas an Attraktivität gewinnen. Dann kann man Quoten einführen, denn dieses Land wird gerne in den Fokus Ausreisewilliger rücken. Und auch innerhalb globaler Konzernverbünde wird ein Top-Arbeitnehmer München gegen San Francisco nur dann tauschen, wenn sein Kind in Kindergarten bis Schule gleiche Chancen hat, auch mit schwarzer Hautfarbe. Sind wir uns so sicher, dass wir das erfüllen können? Ist es nicht logisch, dass wir sonst Zuwanderung von chancenlosen bekommt? Von denen, die auch wegen ein paar Euro Kindergeld Monate in Flüchtlingsheimen zubringen? Das ist keine echte Zuwanderung, dass ist in der Tat Zuwanderung in die Sozialsysteme. Sie bekämpfen wir aber nicht, wenn wir uns verschließen. Sie bekämpfen wir, wenn wir uns öffnen und klar machen, dass wir zunächst leistungsorientiert sind und dann denen helfen, die aus irgendwelchen Gründen unsere Solidarität verdienen. Trauen wir uns aber zu sagen, dass wir also Zuwanderung nicht von Kranken und Alten wollen? Wenn wir das nicht tun, werden wir wirklich lächerlich: Zuwanderung brauchen wir nur, weil wir keine Kinder haben. Zu wenige davon zwingen uns dazu, dass wir Zuwanderung brauchen. Und wir wollen sie, weil wir die Welt lieben, weil wir Diversität lieben und neugierig sind auf die Welt. Und weil natürlich wir viel aus unserem Leben machen wollen – das ist eine andere Beschreibung von leistungsorientiert, aber geht mehr auf die Wurzeln zurück, was das eigentlich ist, Leistung.
Nur dann, wenn wir also insgesamt offen sind und auch bereit, unsere eigene Kultur zu verändern, die Einflüsse der Zuwanderung wirken lassen und auch unsere Sprache offen für Veränderung halten, dann können wir die Sahne abschöpfen und die Besten zuwandern lassen. Diese Leistungskultur würde auch nach innen wirken, unsere Gesellschaft dynamischer machen und flexibler, Ängste nehmen, weil wir stark sind. Wollen wir das? Haben wir diese Wahrnehmung? Oder sind wir längst vor Angst erstarrt, weil bereits alt, ungelernt und unflexibel? Wo ein Teil der Gesellschaft ja sagen wird, wird die Mehrheit der Senioren schon jetzt Zweifel anmelden. Es liegt in der Natur der Sache: Wenn man erstmal alt ist, ist es mit der geistigen Flexibilität oft nicht mehr weit her, die örtliche ist ganz und gar eingeschränkt. Und wer nicht ganz gesund, nicht begehrt am Arbeitsmarkt, der wird Zuwanderung instinktiv als Bedrohung seines Platzes in der Gesellschaft empfinden. Wie die Politik also gleichsam Besitzstandswahrern den Bart mit Honig vollschmieren kann als auch offen für die besten Zuwanderer, dass ist deren Geheimnis. Unsere Gesellschaft spreizt sich stärker, das ist aber das Ergebnis der kapitalistischen Wirtschaftsform, die wir insgesamt für die beste, schlechte Alternative halten.
Man kann es auch kulturpessimistisch sehen: Was hat unser Land eigentlich für eine Berechtigung in der Zukunft, sich neu zu formieren aus Zuwanderern, die uns so ganz entsprechen, statt sich erstmal selbst zu vermehren? Wie können wir andere dazu bringen, sich uns anzupassen, wenn wir uns selbst ja nicht für vermehrungsbereit halten. Was macht unser Land eigentlich aus, dass sich junge Menschen nicht mehr für eine Familie mit mindestens zwei Kindern entscheiden? Und wenn Kulturen wie die amerikanische offener sind für Zuwanderung, dann tun sie das auch, weil ihre Leistungsorientierung glaubhafter ist als bei uns. Und wenn sie das sind, dann haben sie es ein stückweit auch mehr verdient, uns zu überleben. Wir glauben ja nicht mehr an uns selbst und ziehen den Porsche dem Kinderwagen vor.