Die Rede ist von Hatespeech. Von Hass und Wutreden, von Hetze. Das ist es, was die schreibende Zunft besonders in sozialen Medien beobachtet und den Puls der Gesellschaft bedenklich hoch getrieben hat. Doch es braucht keinen Blick in die Onlinewelt um zu sehen, dass sich Wut auch im realen Alltag überall manifestiert. Menschen sind überreizt, überfordert und gleichsam gehetzt. Von positivem Stress zu reden wirkt wie Hohn, denn Stress bedeutet auch im besten Sinne eine Beschleunigung außerhalb eines natürlichen Rhythmusgefühls hinaus. Was macht diese Wut aus, woher kommt sie und können wir sie in einem Zusammenhang gesellschaftlich erklären? Ich denke, das ist relativ einfach und in seiner unmittelbaren Logik vielleicht trivial, aber es ändert deswegen auch nichts an seiner Problematik und seiner Gefahr, ein besonderer Quell der Konflikte in den nächsten Dekaden zu werden und unsere Gesellschaften förmlich explodieren zu lassen.
Es braucht keinen heißen Sommertag in einer dicht gedrängten Großstadt, um traurige Beobachtungen zu machen: Da werden wildfremde Menschen auf der Straße angeblafft, man wird gemaßregelt in seiner Fahrweise, Fahrradfahrer werden angehalten Helme zu tragen, auch wenn es keine gesetzliche Pflicht dafür gibt. Ohne jede förmliche Anrede werden Beleidigungen und außergewöhnlich aggressive Botschaften formuliert. Der selbst erlebte Druck wird scheinbar wahllos abgeladen. Wenn das Ventil fehlt, schlägt Stress in Wut und nicht selten aggressiven Furor um. Was drückt dies in unserer Gesellschaft aber aus und worin besteht überhaupt der Zusammenhang, dass laut Aussagen der Bundesregierung die Bevölkerung zufrieden wie nie zuvor sei, dennoch aber auch in Regierungskreisen von einer zunehmenden Verrohung der Gesellschaft gesprochen wird. Hier scheint entweder ein Dissens oder schlicht ein Fehlurteil vorzuliegen, die Frage ist wie so oft, was der Wahrheit aber wohl näher kommen könnte – die zufriedene oder die gestresste wie unzufriedene Gesellschaft. Dahinter verbirgt sich nicht selten ein extremer Funktionalismus, Menschen sind beladen von Aufgaben, bemühen sich effizient und produktiv mit Ihrer Zeit umzugehen. In bester puritanisch-lutheranischer Arbeitsethik lässt man den lieben Gott keinen guten Mann sein, sondern versucht einfach noch mehr herauszuholen aus seiner verfügbaren Zeit. Wenn dann der DHL-Bote mit seinem Packetwagen die Straße versperrt, der Lastradfahrer mit seinen Kindern ein wandelndes Hindernis ist, man selbst aber mal wieder die letzte Minute der Verspätung im dichten Großstadtverkehr wieder gut machen will, dann platzt der Hemdkragen besonders schnell. Um die besonders intensive Wut zu erklären, müssen wir ein stückweit darauf schauen, was den sozialen Kitt in unseren Gesellschaften ausmacht und wie es funktioniert. Es ist lohnenswert, sich den Menschen gerade als Herden- oder Gruppenwesen noch genauer, möglichst ohne Ideologie und gleichsam distanziert zu betrachten. Denn nur mit dem Verständnis dieses Mechanismus wird erklärbar, welche starken Kräfte hierauf wirken und Wut wie Hass die einzig (menschliche) Antwort auf diese Kräfte ist.
Ob im Konsumdrang, im fiebernden abhaken irgendwelcher Aufgaben (Tasks) in immer wieder neu erstellten Listen, aus Selbstperfektionierung oder aus der Angst heraus, andernfalls Krankheiten oder sozialen Versagen ausgeliefert zu sein, dieses Verhalten wirkt ansteckend und ist für jeden spürbar. Dem Allgemein bemerkten Rausch der Geschwindigkeit zu entfliehen erscheint fast unmöglich. Die Befreiung fällt scheinbar schwer wie in jeder Form von oft wiederholtem Verhalten. Manchmal kommen suchtähnliche Phänomene dazu. In besonders intensiver Form findet man dies in sozialen Medien (Facebook, Instagram) vor. Es mag plätschern, die Informationen mögen ja noch so irrelevant sein, sie werden aufmerksam gelesen. Und die eingegebenen Fotos wie Beschreibungen senden Botschaften, die den sozialen Habitus deutlich machen. Auch wenn Menschen selten so offen sind und sich eingestehen können, wie stark sie doch beeinflusst werden, so wirken gerade moderne Menschen besonders stark getrieben von diesem subtilen Druck, der nirgendwo so intensiv und schnell, auch gleichsam unmittelbar in der persönlichen Welt erfahrbar wird wie bei Facebook. Die dort geschaltete Werbung ist bekannt dafür, einen Archetypus und ein Lebensmodell aufzuzeigen, das erstrebenswert und glücksverheißend sein soll. Wir glauben die Botschaften zu erkennen und verharmlosen Ihre Wirkung, doch sie beeinflussen in einem Maße, wie es die Propaganda in Autokratien nicht besser könnte. Das schreit nach Psychologie und Soziologie und schon vor hundert Jahren waren diese Mechanismen durchschaut, wir unterliegen nur dem Trugschluss zu glauben, dass wir deswegen heute für diese subtile Beeinflussung immun geworden sind. Sind wir aber nicht, zudem hat die Werbung genauso wie wir selbst gelernt noch komplexere Botschaften zu platzieren und noch verführerischere Kreationen zu platzieren.
Die Ökonomie hat sich noch nicht so stark mit den Verhaltenswissenschaften auseinander gesetzt wie vielleicht oft unterstellt wird, seit Kahnemann oder Shiller die Nobelpreise für Behavioural Economics erhielten. Die Ökonomie hat eingesehen, dass nicht nur der Mensch nicht rational handelt, sondern dass er in der Gruppe noch stärker fremdgesteuert ist als wir uns dies selbst eingestehen dürften. Der Blick beschränkt sich auch im Verhalten immer noch stark auf das Individuum, versucht emotionale Muster auszumachen oder erklärt Denkfehler in der Biologie des Menschen. Sie ist aber zurückhaltend, wenn sie die komplexe Dynamik in Gruppen und sozialen Schichten beschreibt als regulierender Imperativ für die absolute Mehrzahl an Menschen. Auch tut sich die Ökonomie noch recht schwer damit, kulturelle Verhaltensweisen zu generalisieren oder sowas wie den menschlichen Instinkt in seiner Peer-Group zu beschreiben. In schulischen Beschreibungen wird das Wort “Gruppenzwang” gerne benutzt, um den Hang zur Droge oder das Interesse daran zu erklären (was selbst in die irre führt bei dem Charakter der Sucht und des Betäubungsmittels, seinem funktionalen Zusammenhang in der Bewältigung psychischer Belastungen gerade in unserer Zeit, aber dies ist ein anderes Thema). Doch Gruppenzwang ist letztlich das beste Wort um auch das zu beschreiben, was in subtilster Form den Menschen lenkt. Es ist nicht die Gruppe jedoch, die das Individuum zwingt. Genauso stark ist der innere Druck des Individuums, nicht allein sein zu wollen. Akzeptiert zu sein in einer Gruppe, denn das Überleben als Individuum ist ungleich schwerer (gerade in einer Wettbewerbsgesellschaft), wenn man nicht im Kontext einer Gruppe diskutieren, lernen aus Fehlern anderer oder schlicht beobachten kann. Auch kann die Gruppe solidarisch sein, zumindest in einem Ihr möglichen Umfang, so es sich nicht um Ornamentik der sozialen Schicht handelt – Freundschaften nicht zum Austausch unter Gleichwertigen, sondern Freunde als Unterfütterung eines schwachen Egos, als Möglichkeit Aufsehen zu können oder zu profitieren. Die täglich meist praktizierte Form ist in dieser Gruppendynamik die Konsumentscheidung: Welcher Produkte, welche Qualität, was überhaupt ist nötig um in einer bestimmten sozialen Schicht oder Gruppe angehören zu dürfen. In Deutschland ist sicher Eigenheim oder Auto der deutlichste Ausdruck dieser Peergroup: Der Volkswagen zeigt den Weg in die bürgerliche Mittelschicht, der linke Akademiker wählt den Dacia, der Aufsteiger den BMW Touring, etc. Selbst diejenigen, die als Etikette das exotische Wählen, haben sich damit ein besonders deutliches Etikett außerhalb des Mainstreams versucht zu schaffen. Der Klassiker war früher der beamtete Lehrer, der seine Begeisterung für skandinavische Egalität, für die Feindlichkeit gegenüber der deutschen Mentalität oder schlicht seine private Unabhängigkeit mit einem Volvo feiern wollte. Heute mag das hybrider sein und die jüngeren Schichten drücken eher im jeweiligen Smartphone aus, wie bedeutsam bestimmte Etiketten für sie sind. Kleidung, der Rasenmähroboter – es gibt so viele kleine Statussymbole, letztlich aber sind sie meist nicht nur Ausdruck eines intensiven Konsums, sie sind auch Symbole und damit Erkennungszeichen für andere Menschen. Haben wir Ähnlichkeiten, gibt es da Präferenzen und Neigungen? Ist unsere Prägung ähnlich? Schau auf den Turnschuh, schau auf die Brille und die ersten Zeichen werden gesetzt. Sich davon frei zu machen, es gar mit Protest abzulehnen, wirkt kurios und besonders. Die Frage der Motivation stellt sich aber besonders dann, wenn eine negative Intention die Basis hierfür liefert: Ich kaufe mir das besonders teure Fahrzeug einfach weil ich meinem Nachbarn zeigen will, dass ich ihm über bin. Wir kommunizieren damit mehr Status, mehr soziale Sicherheit, mehr Vermögen, mehr Möglichkeiten, selbst wenn sich im eigentlichen Sinne die Möglichkeiten der Gestaltung gerade durch das teure Fahrzeug schnell verbraucht haben. Was macht uns also aggressiv? Das Auto des Nachbarn oder unser selbst gekränktes Ego, weil wir merken, dass wir es ihm nicht gleich tun können?
Ich neige nicht zur Esoterik, doch Religionen haben diese Problematik intensiv untersucht und Ihre eigenen Antworten gefunden. Aggression ist im Buddhismus neben Gier und Verblendung eines der „drei Gifte“, die unser Leiden (Wut) verstärken. Wenn wir aggressiv sind, beherrscht uns der (Jäh)Zorn. Wie ein Tier liegen wir auf der Lauer, fletschen die Zähne, sind, sind in Angriffsstimmung und feindselig. Andere Menschen wollen uns zwar eher selten wirklich ans Leder, aber wir halten sie oft für eine Gefahr für unser Selbstbild, fühlen uns beleidigt oder herabgesetzt. Wirklich angegriffen wird (bzw. fühlt sich) dann also eigentlich nur eins: unser Ego. Und dieses Ego ist in unserer westlichen Welt das Ziel aller Werbung, allen Konsums und aller Entscheidung. Das freie Individuum pflegt sein Ego und derart aufgeblasen lässt es sich besonders trefflich und schnell beleidigen. Die Fliehkräfte der Globalisierung und die dem Kapitalismus innenwohnende Neigung zur Umverteilung von vielen auf wenigen liefern dann den nötigen Treibstoff. In der falschen Branchen, am falschen Ort und mit der nicht mehr passenden Qualifizierung droht der soziale Abstieg. Diese Angst motiviert und setzt Kräfte frei, aber sie setzt auch gleichsam negative Energien frei. Wer dann resigniert und seine soziale Mobilität in Ihren Einschränkungen festhält, der akzeptiert dies entweder oder er fühlt sich verraten: Von den Versprechungen unserer Gesellschaft, dem was Konsum letztlich aushöhlt und selbst wenn die Person das alles nicht versteht, so ist ihr doch klar, dass sie den sozialen Kontext seiner PeerGroup eventuell nicht mehr erreichen kann. Wer resigniert hat, wo die Wut sich lange aufgestaut hat, da ist der beste Boden für Hass und Furor gesät. Der richtet sich dann immer noch gerne gegen dass, was offensichtlich anders ist als man selbst oder die eigene Gruppe: Das kann der Flüchtling sein, der farbige Postbote, der Banker, der Lastradfahrer in der Straße vor mir, der fehlende Service in meinem Restaurant – überall führt die Interaktion zu einer Beleidigung des eigenen Egos und zu noch mehr Wut.
Psychologisch ist das natürlich höchst gefährlich und unsinnig, es löst Stress aus, dessen Konsequenzen auf die Gesundheit bekannt sind. Dies zu regulieren ist dennoch nicht etwas, was jedem mitgegeben ist und vieles ist heutzutage in der Lage, wie ein Katalysator die Wut und den Hass noch weiter zu verstärken. Ideal und geradezu gebaut dazu sind soziale Medien wie Facebook, wo in derart massivem Umfang gehasst und gewütet wird, dass einem Angst und Bang werden kann. Alleine der Konsum dieser Hassbotschaften, Beleidigungen und Wutreden löst beim Konsumenten größtes Unwohlsein auf. Wohl dem, der dann abschalten kann und dem diese Mechanismen beim Surfen bewußt geworden sind. Andere im Sog der Wut schreiben sich die Finger wund und können nicht fassen, wie wirkungslos selbst ihre besten Argumente in diesem ewigen Gefecht sind. Psychologen grenzen die Wut von Zorn und Ärger ab, indem sie von einem „höheren Erregungsniveau“ und stärkerer Intensität sprechen. „Von Zorn spricht man dann, wenn die Angelegenheit, die uns ärgert, nicht primär auf unser Ich bezogen ist, sondern auf etwas Übergreifendes… Der Zorn ist etwas distanzierter als die Wut (…)“ (Verena Kast, Vom Sinn des Ärgers).
Die Entstehung von Wut wird psychologisch analog zur Entstehung von Aggressionen erklärt.
– Die Triebtheorie nach Sigmund Freud. Sie geht von einem angeborenen Aggressionstrieb aus. Wird er prinzipiell unterdrückt, kommt es zu seelischen Störungen.
– Die Frustrations-Aggressions-Theorie geht davon aus, dass Aggressionen grundsätzlich Reaktionen auf Frustration sind. Wut ist demnach eine Abreaktion.
– Die Lerntheorie nach Albert Bandura stellt Aggression als erlerntes Verhalten dar. Sie sei ein Verhaltensmuster, das durch bestimmte Erfahrungen und das Lernen von Vorbildern antrainiert werde.
Es ist akademisch, sich für eine der Theorien zu entscheiden. Philosophisch sehe ich persönlich den Kern der Aggression in dem Unvermögen der Person, seine eigenen Interessen durchzusetzen und seinen Willen zu realisieren. Es braucht da nicht Nietzsche, ein Blick auf den einjährigen Sohn, der Papas Handy nicht bekommt reicht, um zu erkennen dass Wut so schon ausreichend begründet ist, wenn der kleine Mann seinen Willen nicht bekommt. Ob er dieses Verhalten nun im psychologischen Sinne von den Eltern erlernt hat, sich von der Schwester abgeschaut hat oder weil es ihm eigentlich immer innewohnt (Feministen würden gar unterstellen, weil er als Mann ja perse aggressiv sei), spielt keine Rolle. Wichtiger ist, dass unsere Zivilisation anders als Barbereien die Menschen dazu erziehen muss, Ihre Wut zu kontrollieren und den gespürten Impuls und die Energie der Wut derart abzuleiten, dass sie sich nicht in einem Automatismus gegen andere richtet, der sich bei näheren Hinsehen als unbegründet herausstellt.
Unsere Gesellschaft ist überaltert und das Frustrationslevel der Menschen erscheint rund um das 50zigste Lebensjahr besonders hoch, wie Empiriker festgestellt haben – ergo ist es kein Wunder, dass gerade bei uns das Niveau der Unzufriedenheit auf extrem hohen Niveau befindet. Vollbeschäftigung, steigende Einkommen, das alles löst keine Zufriedenheit aus – eher wird die Frage gestellt, warum es die Ausreißer gibt, die immer mehr raffen konnten und man selbst sich außerstande sieht, hier auch nur in die Nähe dieser Ausnahmen zu gelangen – keine Gesellschaft ist somit unzufriedener mit sich selbst und seinen Möglichkeiten als unsere Gesellschaft, wo der durchschnittliche Mensch 48 Jahre alt ist. Es erscheint wie ein Beruhigungsmittel, wenn unsere Regierung Vollbeschäftigung als ein Indiz für Glück ansieht – eine Verjüngung der Gesellschaft wäre ebenso nötig wie das Gefühl des Zusammenhaltes und des Interesses aller Gruppen, auch den größten Gewinner der Globalisierung, den sozialen Kitt zu erhalten und soziale Mobilität zu erhalten. Die Fliehkräfte der Globalisierung haben jedoch eine derartige Zwangsläufigkeit darin, diese Unterschiede weiter herauszustellen und Glück neben Pech zu stellen, dass Wut und Hass noch weiter viel Futter bekommen werden. Trump ist da leider nur der Anfang gewesen.