Manche Gedanken sollte man aufschreiben. Nicht weil Sie sonderlich genial sind, das denkt man vielleicht sogar zu oft. Aber um in der Rückschau sein Denken zu überprüfen, wie in einem Tagebuch und dann festzustelle, wie anfällig man war. Für Täuschung. Für Verirrungen und Wirrungen, weil man emotional zu aufgeladen war, um nüchtern zu denken. Entsprechend dieser Ouverture ein paar Gedanken zur Lage. Und wie Boris Pistorius uns allen auf den Weg gab: Sei immer vor der Lage, egal was passiert! Was auch immer das heißt, vielleicht ist er in der Zeitreise erfahren oder er meinte, dass die Lage so eine Art mediales Zerrbild davon ist, was erst nach dem eigentlich Ereignis einsetzt. Sei es drum: Lage voraus!
German Angst
Gibt es ein furchtbares Ereignis, dass einen quält wie eine Furunkel, aber den Deutschen doch nicht bislang nur sehr entfernt körperlich bedroht, dann ist es der Krieg in der Ukraine. Ja, raunt der Deutsche, das kann aber alles noch viel schlimmer werden! Hätte, werde, könnte, aber in der Voraussage von Katastrophen sind wir Deutschen sehr geübt. Es scheint sowas wie Tiefensehnsucht in der Gesellschaft zu geben: Immer tiefer, rein in den Bunker, ins Dunkle, in den Tod und dann tiefer, noch tieferrrrrrr! Das äußert sich dann an allerlei Fronten. Mal droht der Welt Hunger, dann sieht der Deutsche seine Währung kollabieren. Und wenn es dann eher die Wirtschaft ist, kann ihm noch das Sozialsystem um die Ohren knallen. Aktuell sorgen wir uns ersprießlich viel ums Klima, was auch schon seit 50 Jahren den Nostradamus erfreut. Club of Rome, Global 2000 – es gab so allerlei Untergangshysterien, die wir wie besoffen in uns gedrückt haben. Und immer ist der ganze Zirkus von Fernsehen bis Literatur sich einig, wie es alles zu sein hat. Man könnte dass einen Zirkus zur Machtstabilisierung nennen, mit Angst wird die deutsche soziale Marktwirtschaft in Ihren Festen gehalten.
Zurück zur Ukraine, wo wir Deutschen für die Fortsetzung der Berichterstattung noch allerlei Atombomben und III. Weltkrieg vermuten. In den letzten Monaten wußten wir gar nicht, ob wir mit den Ukrainern selbst an der Front stehen und Ihnen die Patronen reichen oder ob da noch was ist, zwischen uns und Russland. Schießen wir 10.000 Meter hoch und gucken herunter, ist das Bild doch eigentlich gar nicht so uneindeutig. Nicht die Nato dringt vor oder der Russe ist durchgedreht (wenn auch trunken von Nationalismus, was ihm noch bleibt nach all dem Systemuntergang der letzten Dekaden). Meine Einschätzung lautet in etwa so: Nachdem der Warschauer Pakt implodierte, verlor Russland erst seine Paktstaaten von DDR bis Litauen und danach auch die Union. Jede ehemalige Sowjetrepublik untersuchte die Freiheit und Ukraine, Weissrussland oder Tschetschenien gründeten sich. Wie Putin es nannte: Es war für die Russen eine geopolitische Totalkatastrophe und mit gewissem Recht darf Putin wohl behaupten, dass er den Zusammenbruch entschleunigt hat. Wirtschaftlich gelang ihm das nur geringfügig, aus einer industrialisierten Nation wurde eine Art Bodenschatzlager mit Tankstellen, die so Ihren Haushalt stabilisieren konnten und Geld in die Rettung des Militärs schoben. Wie auch die Bundeswehr in Deutschland erlebt aber die Rote Armee, dass man ein ehemals aufgeblähtes Militär mit 50-70 Milliarden im Jahr vielleicht am Leben hält, aber es trotzdem zerfällt und weiter verrostet. Für echte Reform und Modernisierung fehlt der Wille und das Geld. Wie überhaupt man in Deutschland ja auch merkt: Mehr Geld locker machen ist ja nett, aber wer nicht reformieren will, erreicht gar nichts. Und so wird weder in Russland, wo der KGB als FSB wiedergeboren wurde noch in Deutschland, wo bekannt Veraltetes auch lieber aufgebläht wird denn reformiert, weitergemacht als wäre nichts passiert. Und von der stolzen UDSSR ist nichts übrig geblieben als besagte Tankstelle, gigantische Moore in Sibirien und ein Waffenschrank mit geschätzten 6.500 nuklearen Sprengköpfen. Oder ein anderes Bild: Tankwart, dem aktuell die Kunden abhauen und der sich nur noch mit dem Griff in den Waffenschrank zu seinem Recht verhelfen kann. Denkt er, fühlt er so. Stimmt natürlich auch nicht so ganz, aber besser wäre es gewesen, er hätte auch die Industrie ähnlich hart reformiert wie das in Deutschland die Rosskur der Treuhand zumindest geschafft hat: Alles platt und von da an vorwärts!
10.000 Meter über Kiew
Oben auf 10.000 Meter sehen wir auch was ganz banales: Der Westen dehnt sich aus gen Osten. Polen, Letten, Ukrainer – sie konnten den amerikanischen Cowboys und der EU natürlich gar nicht schnell genug die Hand reichen! Die Polen verabscheuen teils die Russen mehr als die Deutschen, den von denen gab es zumindest sowas wie guten Willen, bis Ihnen bei North Stream II natürlich alles um die Ohren flog. Aus russischer Sicht drängte der Westen mit seinen Institutionen voraus, die Amerikaner machten gerne mit. So ist doch die amerikanische Grundüberzeugung, dass jeder, der den freien Willen hat, souverän sein soll und unabhängig. Meistens kommt dann sowas wie das westliche Modell dabei raus, es sei denn, es wird gestört. Die Russen hatten in den 90ern die Chance sowas wie Opposition im eigenen Land zu prägen, hätte Jelzin etwas weniger Vodka geschluckt wäre es eventuell möglich gewesen. Stattdessen half Putin der Restaurierung und dem Denken des imperialen Grossrussland wieder auf die Sprünge. Das war nicht immer so, aber Putin lernte an erster Stelle, spätestens durch Obamas arrogantes Geschwätz von der “Regionalmacht Russland”, dass er weder Respekt noch echte Unterstützung für ein starkes Russland zu erwarten habe. Die Ukrainer zeigten, dass Sie um 2008 herum am Maidan zerrissen waren: Gesellschaftlich in einen zu Russland neigenden Teil, Medial zerrissen zwischen den TV-Stationen neuer Milliardäre und Schokoladenproduzenten wie Janukowitsch. Die Mehrheit entschied sich gen Westen, um auf den Zugang zu EU und NATO zu hoffen. Das machte Putin natürlich nervös, ein weiteres Polen an der Grenze, wo schon Weissrussland instabil wurde (erste Proteste in 2020), konnte er nicht mehr kalkulieren. Putin sah in gewisser Weise vor sich einen neuen Untergang am Horizont, für den er keine Instrumente hatte, auch keine Opposition. Russland war von einer Präsidialdemokratie ratzfatz in ein autoritären Polizeistaat umgeschlagen. Und etwa seit den 2010er Jahren in eine Art Faschismus mit Führerkult ohne jegliche Opposition. Die russische Doktrin zu Diktaturen war seit Syrien bekannt: Niemand habe sich von außen in die internen Angelegenheiten eines Staates einzumischen. Und auch wenn der FSB es im amerikanischen Wahlkampf nicht anders hielt, war damit auch Russland selbst gemeint. Mischt Euch nicht ein, weder in Russland noch seinen natürlichen Interessensphären.
Russlands innere Heimat
In einer Doku von Oliver Stone über seine Putin-Interviews gab es eine kleine Sequenz, die mich überrascht hat. Putin zeigte Stone in einem Arbeitszimmer ein Poster von seinem Vater. Er war Marine-Soldat in Sewastopol gewesen, der Krim. Das bedeutet nichts anderes als das Putin durch seine eigene Familie die engen Bande zur Krim verspürt, die er Urrussisch nennt. Und natürlich gibt es diese Verbindungen, sie sind nicht zu leugnen und in Friedenszeiten wäre diese enge Verbindung eigentlich ein Schatz für beide Nationen. Putin hat sich aber imperialer verhalten und 2014 handstreichartig Tatsachen geschaffen. Bis hierhin und nicht weiter! Und letztlich hat man es ihm durchgehen lassen. Wobei: HALT! Wer hat es ihm durchgehen lassen? Die Amerikaner vielleicht? Hätten die nicht mit den Atomwaffen drohen müssen? Obama hat wie in Syrien aber eine passive Rolle eigenommen, stattdessen hat Putin diese Sphären sofort besetzt. Wo Giftgas genutzt wurde und rote Linien überschritten wurden, hat Obama gezögert. Trump hat es damals nicht so kommen lassen und gezeigt: Das Amerika of Force ist wieder da. Gottlob war der Einsatz mehrerer Cruise Missiles Trumps größter militärischer Einsatz, ansonsten hielt er sich überraschend für viele Beobachter zurück. Putin dagegen war klug genug, seine Interessensphären zu sichern. Weder Syrien, noch Krim und Don gab er wieder her. Wer hat noch gezögert? Die “Fuck the EU”.
Wen es einen schwachen Spieler in der Geopolitik gibt, dann ist es die EU. Sie ist eigentlich nur mit sich selbst und Ihrer Bürokratie beschäftigt. Wo volle Spesentröge warten, wo bestes Essen in Brüssel serviert wird, da hat man für den Rest der Welt wenig Zeit. Die EU hat in der Ukraine eine extrem gespaltene bis schwache Rolle gespielt. Während die Deutschen sich an russisches Gas hängten, suchten die Polen Abstand zu Russland und wollten Stärke beweisen. Die Franzosen hatten sie nicht, sprachen vom Hirntod der Nato und so konnten auch die Briten im Brexit-Strudel nicht für die Freiheit und Liberalität trommeln. Der letzte Sargnagel der Außenpolitik war der Abschuss von MH370. Er versetzte das sonst nüchterne Holland in einen absoluten Ausnahmezustand. Schock, Trauer und dann Wut. Wut, die nach Vergeltung dürstete trank aus Den Haag gen Brüssel. Weil militärisch die EU nicht handlungsfähig ist, weil Sie nicht so unter Handlungsdruck ist wie es die Nachbarn gerne hätten, beschloss sie lediglich und immerhin Subventionen. Von da ab wurde der Graben zu Russland immer tiefer. Ob North Stream II dann als eine Art Versöhnung oder deutsche Panik in der fehlgeschlagenen Energiewende zu sehen ist, überlassen wir der Geschichte. Fakt ist, von da ab war das Klima so gestört, dass Briten und Amerikaner sich immer mehr der Aufrüstung der Ukraine zuwendeten. Denn das Minsker Abkommen hatte vor allem eins: Zeit gekauft für die Aufrüstung der souveränen Ukraine.
Krebs macht Dich aggressiver, denn Du willst leben!
Meine persönliche Erklärung für den Kriegsbeginn ist eher persönlicher Natur. Putin hat angeblich eine Krebserkrankung erlitten und wurde (wohl erfolgreich) therapiert. Dennoch hat die Therapie sein Immunsystem geschwächt, was die Isolation in der Corona-Pandemie erklären könnte. Eh schon als quasi Diktator isoliert, begann Putin sich viele Fragen zu stellen. Und natürlich war eine Frage, ob er in der Ukraine eine Lösung erreichen könnte. Das die Invasion nach 2014 eine natürlich Option für ihn war, wollte wohl nur die mediale Öffentlichkeit im Westen nicht mehr glauben. Putin tat, was eine Option war. Er war getrieben, von der geopolitischen Lage und er brauchte für seine Entscheidung eine gewisse Grundaggressivität. Nicht wenige Krebspatienten erleben nach Ihrer Heilung eine Art massiven Willen zum Leben. Sie wollen sich gegen Gefahren stellen, das Leben an sich reißen und garantiert keinen Schaden mehr ans Ihren Körper kommen lassen. Der Entschluss ist eine Art Reinigung und die Zeichen standen eh schlecht: Putin wußte, dass die Ukraine jeden Tag besser gerüstet war um eine Invasion zu verhindern. Putin entschloss sich zum Erstschlag. Dass er fehlschlug und warum, dass erzählen uns heute die Heldengeschichten der Ukrainer. Wie er aber endet, dass ist noch im Unklaren. Eins ist klar: Die Gründe Russlands den Krieg zu beenden sind weiterhin nicht zwingend. Sie müssen auch nicht verhandeln, solange keine Opposition den Blutzoll der Russen thematisieren kann. Die Ressourcen Russlands sind groß genug für einen weiter mahlenden Fleischwolf, der Blut spritzt von tausenden russischer Soldaten. Und auch noch viele Ukrainer verlieren unweigerlich erleben, zögerlich bis entschlossen von einem relativ schwachen Westen gerüstet. Deswegen schwach, weil nach ersten Lieferungen bspw. Deutschland daran scheitert, dass es keine Rüstungsindustrie mehr gibt, die pragmatisch und im 3-Schicht-Betrieb nachliefern könnte. Weil nachwievor veraltete Behördenstrukturen in der Beschaffung versagen und nicht reformiert werden. Somit ist nicht klar, ob die Ukraine auch mit hohem Blutzoll weiter Erfolge erreichen kann oder aber verlieren wird. Das wollen Poland, die Letten und Esten nicht zulassen, aber wie das gelingen kann, ist nicht sicher. Nun dürfen altersschwache Mig29 der ehemaligen NVA von Polen aus an die Front. Auch das wird und kann die Russen nicht besiegen. Es wird keinen Sieg geben – es ist nichts dergleichen absehbar und auch niemand schickt einen Zug mit Lenin nach St. Petersburg.
Es bewegt sich dennoch etwas. Etwas sehr unheimliches und Großes. Der chinesische Drache ist gelandet und er ist in Moskau gelandet. Xi Jinping macht Russland stark und Russland weiß die Stärke in diesem Moment zu nutzen um den Preis, hier sicher die Nr. 2 zu sein. Xi kommt aber nicht alleine, Brasilien, Südafrika, Indien – sie alle sind sich einig: Der Westen verdient diese unsere Unterstützung nicht. Russland ist keinen Funken weniger zu misstrauen als den USA, denkt doch an den Irak in 2003 und wie die Amerikaner sich mit den gleichen Methoden ein Land unter den Nagel gerissen haben für einen noch billigeren Preis, das Öl! Damit ist erstmalig die multipolare Weltordnung in Funktion sichtbar. Die USA verbleiben mit Abstand die stärkste Macht, haben Sie doch den Rest des Westens an seiner Seite. Sie dominieren die Welt wirtschaftlich und militärisch, aber sie haben nicht das Wachstum und die Chancen der Schwellenländer, im Gegenteil, sie sprechen teils sogar ungefordert vom Degrowth (was Chinesen wohl für komplett geisteskrank halten dürften).
Apropos krank: So zeigt sich leider unser bekanntlich unreformierter Staat. Die Bevölkerung ist überaltert und mit ihr seine Institutionen. Behörden, Schulen, Krankehäuser, Kindergärten – überall krankt es, nicht nur die Bundeswehr ist ein Desaster. Und auch wenn der Kanzler viel Geld locker macht, um mit bekannten Rezepten die Nachfrage zu stärken: Er versagt, weil er genauso wie seine Vorgängerin seine Institutionen nicht reformiert. Ob es überhaupt möglich ist bei der trägen und verwöhnten deutschen Öffentlichkeit ist eine andere Frage. Lieber streiten wir uns über Wokeness und die Klimakleber als zu erkennen, dass wir selbst am Scheideweg stehen und mit Vollgas in die Sackgasse brettern. Natürlich gibt es immer Möglichkeiten, die Zukunft zu gestalten, aber dafür muss erst eine Krise durchwandert werden und scheinbar: Sie ist noch nicht groß genug. Die Digitalisierung, die Bildungskatastrophe, der überbordende Sozialstaat, die misslungene Energiewende, wir wissen doch wo wir stehen und trotzdem gehen wir den Weg nicht. In den Talkshows der Republik finden wir die Lösung nicht, sie lebt vom bipolaren Dissenz. Je polarisierter, desto besser die Quote haben wir gelernt. Ergo müßten wir eigentlich wieder dorthin, wo die Debatten besser sind: Im Salon, gar ins Parlament! Nur, wie kommen wir da wieder hin?
Hier noch etwas zu Dieter Nuhr, nachdem Sie gefragt haben. Ich könnte ihm in diesem Interview nur zustimmen. Was eventuell daran liegt, dass ich auch katholisch erzogen wurde? Solche Prägungen bleiben doch erstaunlich tief mit einem verbunden – selbst wenn man die Kirche schon lange nicht mehr von innen gesehen hat.