Mediale Zerrbilder und Individualismus

Medien haben Macht. Das denken sie zumindest gerne von sich. Doch Wahlen entscheiden Sie nicht. Wahlforscher scheitern bis heute daran, den Anteil medialer Wirkung am Wahlergebnis zu messen. Die grundliegenden Parameter und Befindlichkeiten, die so eine Wahlentscheidung treiben, die sind komplexer oder basaler, ganz welches Menschenbild sie so vor sich hertragen. Abgesehen vom Menschenbild ist eines sonnenklar, der intensive Medienkonsum, passiv oder auch aktiv, hat seine Folgen für die Seele. Und das hat eine bestechend einfache Erklärung. Von wegen Resilienz, gegen diese Art von Macht hat Ihre Befindlichkeit kaum Chancen!

Medien können manipulieren, sie verändern sicher auch über lange Zeit das Denken oder eventuell ganz, ganz langsam sogar Ihre erlernten Grundüberzeugungen. Sie ändern aber den Menschen nicht sonderlich schnell, wir sind ja keine schnell umzuprogrammierende Maschine. Der Unterschied der Freiheit der Medien in Demokratie zur Diktatur ist übrigens auch überzogen worden, wenn sie bei Programmierung an Propaganda denken. In Wahrheit ist er gering. Sie schauen ein Programm und wenn es sie erzählerisch überzeugt, fressen Sie den Inhalt gleich ganz. Es erweitert Ihre Informationsbasis, vielleicht lernen Sie etwas dazu und generieren sogar neues Wissen, eventuell können sie die Entwicklung in Ihrer Bildung als richtig verankern: “Das Muster kenne ich doch! Es muss doch wahr sein!”. In der Diktatur ist der Inhalt mangels echter Opposition quasi immer gleich, auch wenn sie umschalten. Aber wer zwischen Gameshow zur Talkshow schaltet, merkt das nicht gleich. Alles in der Diktatur ist kuratierte Lüge, es ist stimmiger, harmonischer, warum also kognitive Dissonanzen wie in der Demokratie ertragen? Das merken nicht einmal alle, die sie Zuschauer sind, dass die Wahrheit der Diktatur wie eine hohle Lüge erscheint. Gerade im Faschismus, wo alles beginnt Lüge zu sein. Und doch sind Menschen auch dort überzeugt, die “Wahrheit” zu kennen. Meine Wahrheit ist eher eine andere: Was für Inhalte die Medien transportieren ist weniger relevant als dass, was Sie in Ihnen seelisch anrichten. Gedanken sind ein Netz, ein Konstrukt für Ihre Emotionen und intelligente Zuschauer verbinden jeden Mumpitz zu einer guten Geschichte. Wie die Geschichte aber Ihre Aufmerksamkeit erlangt, gelingt durch Impulse. Maximale Aufmerksamkeit erreichen Sie nicht ohne Tricks. Dafür müssen Sie es erstmal maximal spannend aufladen.


Abbildung: Orson Welles’ Citizen Kane, bester Film aller Zeiten lt. britischem Kritikerkanon (bevor der Film aus dem Jahr 1942 von einem unbekannten Sozialdrama des Jahres 2019 abgelöst wurde, dass Sie schnell wieder vergessen können, außer natürlich wenn Sie ein Kritiker sind).

Medien sind in der Art der Zubereitung und Ihrer ästhetischen Form zunächst mal vielgestaltig. Es gibt Zeitungen, es gibt Bücher, es gibt da noch Zeitschriften, Magazine, Fernsehen in linearer und nicht-linearer Form (Streaming) und im weitesten Sinne das Internet, soziale Medien natürlich eingeschlossen. Vom ersten analogen Medium des gehaunen Steins zum Internet steigt die Geschwindigkeit der Verbreitung, des Konsums und auch der Reaktion. Der Medienkonsum in Summe, soviel ist sicher, erhöht sich dank stetig kürzerer Arbeitszeiten bei jedem Bürger. Alleine 4 Stunden lang am Tag läuft der Fernseher, was enorm erscheint. Das Internet wird etwa 90 Minuten am Tag genutzt, Tendenz natürlich stark steigend, je jünger, je länger. Wie man alleine schon nach dieser Zahl überhaupt noch zu Sport, Arbeit oder Sexualität kommt – das frage sich wer will! Mein Konsum bewegt sich beim Fernsehen stark darunter, was durch den Besuch der Seiten von YouTube bis Twitter mehr als kompensiert wird. Als Leser von Büchern Jaron Laniers wußte ich ob all der psychischen Gefahren dieser Medien, es dauerte aber ein wenig, bis ich mir darüber wirklich bewußt war. Und als mein Bewußtsein wach war, änderte das gar nichts. Denn ich war mir nur über den Grund bewußt, warum ich erregt, warum ich aggressiv, warum ich so sauer war. Ich was längst süchtig und abhängig geworden. Erst als es mal wieder zuviel war, hatte ich Glück: Norovirus hieß das Glück. 2 Tage reichten aus, mich Schachmatt zu legen und mich zu entgiften. Schlagartig war mir klar, dass ich es zu weit hatte kommen lassen. Und gleichzeitig fühlte ich mich hilflos, denn diese Art von Rausch war für mich extrem gefährlich.

Ich bin mitteilsam, weil ich Feedback schlecht spüre. Ich äußere mich gerne scharfzüngig und Aufmerksamkeit tut natürlich mir gut, vielleicht brauche ich zuviel davon. Man ist geprägt, man hat seine Vorgeschichten, Fakt ist, ich bin für politische Debatten und Macht medial sehr empfänglich, ich streite mich gerne, weil ich mich als Liberaler oder als denkender Mensch gerne beleidigt fühle. Ich lese derartig böse und dumme Sachen, dass mich das einfach auch wütend macht. Ich kam aber lange dann doch nicht auf den Weisheit nächsten Schluss: Was, wenn diese Wirklichkeit eine Künstliche ist. Was wenn das Teil des Spiels ist, also pure Absicht?

Man muß mich für naiv halten, aber ich denke jeder ist öfter ein Opfer als ihm lieb ist. Schlagzeilen machen neugierig. Laute Schlagzeilen, also krasse Neuigkeiten, die den Lauf der Welt zu ändern erscheinen, machen noch neugieriger. Sandra Maischberger ließ in Ihrer Talkshow mal den Satz fallen, dass man sich ruhig bei Ihr streiten dürfe, denn das sei gut für die Quote. Ich habe gar nicht begriffen, wie simpel und einfach diese Beobachtung ist: Wenn Menschen in Konflikt sind, erzeugt dass bei einem Menschen animalische Neugier. Wer gewinnt, was passiert mit dem Opfer? Und da wir nicht so ehrenhaft wie die Römer unsere Sieger ausduellieren lassen, wird halt mit Worten vernichtet und geschändet. Wirklich, manche Debatten sind so unerträglich, dass Mord mir eine fast schon als zivilisiertere Form der Auseinandersetzung erscheint. Weibisches Gezänk überall, der männliche Fausthieb dagegen: Verpönt! Wenn aber wer zu Felde zieht und hart mit Worten Kanonenschläge abfeuert, ist das gut für die Quote. Sexualität funktioniert ähnlich gut, was ins Muster passt, funktioniert in Millisekunden (siehe das ehem. Blatt 1 Modell bei der Bild). Heute ist die Zeit woker, prüder und feindseliger. Alles wird im Diskurs zermahlen dass die Schwarte kracht.

Von der schnellsten Technologie zum maximal individualisierten Menschen – eine fiese Kombination

Blattmacher, quasi wie Citizen Kane, kannten dieses Rezept natürlich. Es ist instinktiv sicher und erfolgreich. Rupert Murdoch kannte es auch, doch übertrumpft werden beide um Lichtjahre von Mark Zuckerberg, Elon Musk und den Google Brüdern: Wer den Algorhithmus so tuned, dass er die Neugier des Menschen maximal triggered, der gewinnt Bildschirmzeit und Nutzungsdauer. Der bekommt die Likes und Klicks und prompt ist man im Rampenlicht – auch ungewollt. Man kann es auch kurz wiederholen: Auch dort gewinnt die Polarisierung, muss alles gewürzt und zugespitzt werden – sexy, brutal, aggressiv, geil. Der triebgesteuerte Affe mit dem Smartphone dreht ab. Und diese Nutzung macht sich psychisch bemerkbar, die Stimmungslage ändert sich. Ziehen Sie den Stecker, flehe ich Sie an!


Abbildung: Der Kollektivismus hat andere Probleme, aber Egozentrik und übersteigerter Individualismus westlicher Gesellschaften ist es nicht. Hier japanische Schulmädchen in Uniform, ein typisches Zeichen für ein Kollektiv.

Dieter Nuhr bemerkte in einer anderen Folge von Maischberger mal, dass er nicht mehr an diese polarisierte Welt glaube. Es sei eine mediales Zerrbild der Gesellschaft (für Klicks/für Auflage). Die wahre Gesellschaft sei klüger, abwägender, differenzierter. Sie ließe in Wahrheit viel mehr Grau und Schatten durchgehen, sei nicht so auf den schnellen Sieg aus und einfach humaner. Mir gefiel dieses Bild sehr, dass der Krieg, der auf dem Smartphone tobt, nicht der wahre Krieg ist. Gleichzeitig glaube ich, dass auch Herr Nuhr da nur zum Teil richtig liegt. Schade! Denn wir leben in gewisser Weise in keiner normalen Gesellschaft mehr. Zuviele Menschen sind heute einsam, leben Ihr leben als Single viel mehr medial aus, als man denkt. Nicht nur Paare finden sich auf Datingplattformen nach Profilen, auch die Alltagskommunikation wird in Gruppen getätigt per Chat. Stundenlanges Telefonieren ist nur für Zeitreiche, die sind bekanntlich selten geworden. Unter Stress des Alltags und der beruflichen Karriere versuchen Sie das Optimum für sich herauszuholen, da ist man selten entspannt und achtsam. Und die letzte Gewürzzutat unserer Zeit ist sowas wie die maximale Individualismus. Und er erscheint mir mittlerweile eine besondere Seuche. Heute sind sie als Intellektueller kein Künstler mehr. Sie sind auch als Handwerker kein Schreiner mehr. Damit kommen Sie nicht mehr weit. Heute besetzen Sie gleich mehrere Rollen, wenn Sie wer sein wollen. Sie sind dann “Künstler, Autor, Regisseur, Blogger und Influencer” oder sowas, darunter geht es nicht und “leben und arbeiten” natürlich in einer Weltstadt. Das reicht, der Rest ist erfunden. Beim Schreiner sieht dass dann anders aus. Auch er kopiert sich seine Ästhetik, trägt einen Lumpenbart wie ein Taliban, ist tätowiert, liebt Smoker und fährt eventuell einen Tesla. Er ist auf seine Art und Weise erfolgreich, frei und ungebunden und liebt es auch, kein Intellektueller sein zu müssen, der in Debattierclubs endet. Der Schreiner fertigt individuelle Designerküchen, holt ordentlich Geld aus seinem Zahnarztkunden raus und kreist ansonsten nicht weniger um sich selbst wie alle anderen Egozentriker unserer Gesellschaft. Alle sind gemeinsam einsam. Sie suchen Respekt, Loyalität, aber die Energie reicht dafür nicht mehr, denn alles zeigt nach Innen.

Wenn Sie stattdessen den Kollektivismus mal wieder erleben, kommt er Ihnen wie eine entspannende Wohltat vor. Waren Sie mal in Japan? Asiatische Länder prägen das kollektiv stärker aus als westliche Kulturen, sie pflegen die Nation wie eine Familie oder die Gruppe als solche. Eine Tätowierung, eine maximale Individualisierung? Könnten Sie wagen, aber wundern Sie sich nicht darüber, dann wie ein leprakranker im Mittelalter nur noch Befremdung auszulösen. Schuluniformen, Arbeitsuniformen, es gibt viele Symbole für die Gruppe, die Einheitlichkeit zeigen. Vor allem aber erzwingt das Kollektiv andere Umgangsformen. Nicht das Gefühl und die Meinung des Einzeln ist maximiert, auch zählen Befindlichkeiten wenig. Wokeness ist in Japan ein geringes Übel, denn es gibt quasi nichts Fremdes, das Land ist kulturell extrem homogen. Mit einem extrem geringen Ausländeranteil ist das kein Wunder, das Land geht mit fremden Kulturen und Eklektizismus völlig anders um. Auch hat es sich in vielerlei Hinsicht seine Einzigartigkeit bewahrt. Online, also in den Medien, ist der Verlust von Respekt und Scham nicht weniger geächtet – die Regeln dieser Länder sind anders und sie erweisen sich für Medien aus meiner Sicht als günstig. Anders in unseren Gefilden:

Stress im Egoismus, Ruhe im Kollektivismus

Jungen Menschen nach Ende des Studiums bleibt für ein harmonisches Leben zu wenig Zeit, Sie sind laufend “auf 180”. Eigene Wünsche, Partnerwahl, Beruf, Familie und Kinder – alles bis 35? Das stresst natürlich, denn alles wird in einer Art Pyramide gedacht: Erst das eine, dann die nächste Stufe. Das ist natürlich auch hysterisch, warum die Auswahl des Partners so schwierig ist und so lange dauert, dass hat viel mit Individualismus oder Egozentrik zu sein. Beides wird heute gerne mit dem Etikett Narzissmus versehen, der aber eine psychologische Manifestation ist, die nicht nur selten ist, sondern viel bösartiger als das, was heute als egoistisches Verhalten diffamiert wird. Egoistisch ist es, sein Handy beim Autofahren exzessiv zu tun. Egoistisch ist es, online den allerbesten Preis herauszuholen. Egoistisch ist es, für sich immer nur das Beste zu wollen: “Weil Sie es sich wert sind” oder “Das Beste oder Nichts!” Alles nur für Sie, so einzigartig wie Sie halt sein können als einer von ca. 8.000.000.000 Erdbewohnern. Und im Kapitalismus ist dieses Herauskehren des Besonderen durchaus ein Erfolgsrezept, es macht nur leider weder sonderlich beliebt noch glücklich. Die Seele kann man sich halt nicht gesund kaufen und der Blick vieler begehrenswert schöner Menschen zeigt heute vor allem eines: Leere. Leere und Langeweile, das gilt heute als besonders schick für das Modefoto auf Instagram. Schauen Sie mal, wie sich dieser Egoismus paar mit gesteigerter Emotion im Rad- und Autoverkehr äußert; Ich würde es für eine frühes kriegerisches Entwicklungsstadium halten, was ich da so in Köln jeden Tag erlebe. Es dürfte andernorts nicht viel besser sein. Und für eine junge Generation ist die Frage, ob sie noch in den Diskurs findet, oder lieber dem Diskurs beiwohnt. Ja, wir sassen natürlich auch nicht in Sit-ins und sahen zuviel Fernsehen, aber nicht-lineares Fernsehen auf dem Smartphone ist eine sehr hoch dosiertes Gewürzt für die Seele, deren Folgen wir halt noch nicht so wirklich kennen. Die Dosis zu beschränken, war auch schon beim Fernsehen kein dummes Rezept.

Nun tragen unsere Kinder ein Bild von der Welt in sich. Es zeigt Sieger und Verlierer, attraktive und dumme Menschen, Krieger und Opfer. Wer bei soviel Polarisierung eine ausgewogene Einstellung zur Welt gewinnt, erscheint mir unerschütterlich. Ich befürchte, wir werden Opfer haben. Der beste Film aller Zeiten, Citizen Kane, trug all diese unerschütterlichen Beobachtungen zu Medien und der Presse bereits in sich. Danach gab es eigentlich nichts Neues zu berichten, wie die Medien denn so sind. Und Kane, der größte Publizist, trug all die Züge in sich, die ultimativ einen Grund hatten: Rosebud. Wenn Sie dieser Namen vor Rätsel stellt, schauen Sie einfach den Film. Er ist noch heute ein Meilenstein.

Leave a Comment